Durch Leid zum Licht

/, Ausgabe 4 | 2025/Durch Leid zum Licht
  • Johann Kliwer, Oblast Workuta

Durch Leid zum Licht

2025-12-21T04:46:27+01:0021. Dezember 2025|

In den stürmischen Zeiten der stalinistischen Sowjetdiktatur geboren, wird Johann Kliwer als Jugendlicher unschuldig verhaftet und kämpft ums nackte Überleben. In dieser dunkelsten Zeit seines Lebens begegnet er dem Herrn und erlebt unverdiente Gnade.

 

Kindheit

Johann Kliwer kam am 29. Oktober 1923 in Orenburg als zweites von vier Kindern zur Welt. Seine Eltern waren gläubige Mennoniten.

Sein Vater leitete als Jugendleiter die Sonntagsschule. Bis zum Jahr 1929 konnten sich die Christen noch frei versammeln. Dann begann die Zeit des Kollektivismus, in deren Folge auch die Versammlungen der Gläubigen verboten wurden. Der Gottesbegriff sollte aus den Herzen der Gläubigen getilgt werden. Die Zeit war geprägt von Repressalien, Verfolgungen und Verhaftungen. In dieser schweren Zeit der Zwangskollektivierung wurden die Bauern durch die kommunistische Herrschaft enteignet.

Das Gemeindeleben und die Gemeinschaft litten schwer darunter. Viele Mennoniten versuchten damals, nach Pennsylvania auszuwandern. Doch wer zu lange zögerte, hatte seine Chance verpasst.

Johann beendete sieben Schulklassen in der Dorfschule und arbeitete anschließend in der Kolchose.

Am 22. Juni 1941 begann der Krieg. Der Vater wurde in die Trudarmee eingezogen. Nach fast einem Jahr Schachtarbeit kam er infolge von Erschöpfung, Mangelernährung und einer Durchfallerkrankung ins Krankenhaus und starb dort eines Nachts einsam und allein. Er wurde nur 50 Jahre alt. Aus seinem letzten Brief konnte die Familie erahnen, dass sein Ende nah war. Er schrieb: „Es wird bald Abend werden, denn der Tag neigt sich dem Ende“ (vgl.
Lk 24,29). Da der gesamte Briefverkehr streng kontrolliert wurde, waren viele gezwungen, ihre Botschaften zu verschlüsseln, damit die Briefe überhaupt ankamen.

Die Nachricht vom Tod des Vaters erreichte die Familie erst, als er bereits längst beerdigt war. Was war in der Trudarmee ein Menschenleben schon wert?

 

Unschuldig verurteilt

Mit 19 Jahren – es war das Jahr 1942 – wurde Johann in die Trudarmee in der Region Perm eingezogen. Nach zwei Monaten erhielt er eine Prämie für gute Arbeitsleistung. In seiner Division begegnete er weiteren deutschen Jungen aus den Dörfern rund um Orenburg, die ebenso fleißig waren und harte Arbeit als Tugend verstanden.Dann begann ein dunkles Kapitel seines Lebens.

Am 3. Januar 1944 wurde Johann, damals 20 Jahre alt, unerwartet verhaftet – zusammen mit neun weiteren jungen Männern aus den Dörfern Orenburgs, die ebenfalls in der Trudarmee dienten. Sie kamen wie gewohnt morgens zur Arbeit, doch alle zehn wurden plötzlich festgenommen. Zunächst glaubten sie an ein Missverständnis, das sich bald aufklären würde. Doch die meisten von ihnen sollten die Freiheit nie wiedersehen.

Die jungen Männer wurden mit absurden Anschuldigungen konfrontiert, konterrevolutionärer Verbrechen beschuldigt und durch monatelange Folter zu Geständnissen gezwungen. Schließlich zwang man sie, eine vorgefertigte Anklage zu unterschreiben. Jeder der zehn Angeklagten wurde nach dem berüchtigten politischen Paragraphen zu unterschiedlichen Strafen verurteilt.

 

Im Zuge dieser Repressionen erhielt Johann – gemeinsam mit zwei weiteren – die Todesstrafe, ohne Recht auf Beschwerde oder Begnadigung (Amnestie).

Seit seiner Verhaftung hatte Johanns Familie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten, keinen einzigen Brief. So gingen sie davon aus, dass er bereits erschossen worden war.

Johann war zu dieser Zeit so abgemagert und entkräftet, dass er kaum noch gehen konnte. Die tägliche Ration bestand aus 400 Gramm Brot und einer wässrigen Suppe, die kaum nahrhaft war. Einer der Mitgefangenen, der ebenfalls zunächst zum Tode verurteilt worden war, starb kurz nach seiner Entlassung aus der Todeszelle.

Da Johann in einem erbärmlichen Zustand war und sich zeitweise kaum bewegen konnte, wurde er nach Kasan in ein sogenanntes Behindertengefängnis verlegt, wo er neun Monate verbrachte. Der einst gesunde, arbeitsame junge Mann war nur noch ein Schatten vergangener Tage. Umgeben von Invaliden – Menschen ohne Arme, ohne Beine – hörte er immer wieder dieselben Worte: dass er wohl nicht mehr lange leben werde.

 

Der Weg nach Workuta

Bis zum Ende des Krieges im Jahr 1945 befand sich Johann im Gefängnis. Danach wurde beschlossen, ihn nach Workuta in ein Straf- und Arbeitslager zu überstellen. Workuta – eine Stadt nördlich des Polarkreises – ist bekannt für ihr subarktisches Klima und galt als eines der größten und härtesten Zwangsarbeiterlager der damaligen Zeit.

Vor der Abfahrt nach Workuta erhielten die Gefangenen eine Suppe aus halb verfaulten Brennnesseln. Bereits im Zug erlitten viele kolikartige Bauchkrämpfe; manche brachen noch während der Fahrt zusammen. Johann und sein Kamerad, der vor Schmerzen schrie, wurden nach einer Fiebermessung in ein Krankenhaus gebracht.

Zwischen seinen Fieberanfällen hatte Johann kurze, klare Momente, in denen sein Wille zu überleben erneut aufleuchtete. Dabei bemerkte er eines Tages, dass sein Mitgefangener nicht mehr neben ihm lag –
er war an Dysenterie (Ruhr) gestorben. Johann blieb drei Monate im Krankenhaus. Doch Gottes Gnade bewahrte ihn, und er überlebte die Krankheit. Danach wurde er schließlich nach Workuta gebracht.

Nach einem Jahr Baustellenarbeit wurde Johann in Workuta zu harter Schachtarbeit in Kohlengruben gezwungen. Er wohnte in Baracken und schlief ohne Bettwäsche auf nackten Pritschen. Womit sie arbeiteten, damit schliefen sie auch. Die Schuhe dienten als Kopfkissen.

 

Bis zum Jahr 1946 war jeglicher Briefwechsel verboten, und die Familie glaubte längst, Johann sei tot. Erst als Belohnung für gute Arbeitsleistungen durften die Häftlinge zweimal im Jahr schreiben. So erreichte seine Angehörigen die erste Nachricht: Johann lebte noch.

Am neunten Tag seiner Arbeit in der Grube ereignete sich ein schwerer Unfall. Beim Wechsel der Ebenen wurde Johann im Förderkorb plötzlich an die Decke gedrückt und erlitt einen Wirbelbruch. Die Bergretter bargen ihn und brachten ihn ins Krankenhaus, wo er sechs Monate – bis August 1947 – lag. Als sich sein Zustand besserte, musste er mühsam das Gehen neu erlernen. Doch durch Gottes Gnade blieb er trotz des schweren Unfalls kein Invalide. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erhielt Johann eine leichtere Arbeit an der Oberfläche des Bergwerks –
als Kranheber.

Täglich nach der Arbeit mussten sich die Brigaden zur schriftlichen Kontrolle versammeln, um die Anwesenheit der Gefangenen zu bestätigen. Warme Kleidung gab es nicht. Dürftig bekleidet, von Hunden umstellt, standen sie stundenlang in der eisigen Kälte – bei Temperaturen von minus 40 bis 50 Grad. Die Wachsoldaten trugen warme Pelzjacken, während die Häftlinge zitternd ausharren mussten, bis alle Schachtarbeiter heraufgekommen waren. Erst wenn die Gruppe vollständig war, wurden sie – von Hunden begleitet – in ihre Baracken zurückgeführt, damit niemand zu fliehen versuchte.

 

Licht im Dunkeln

Unter diesen unmenschlichen Bedingungen blieb Johann wie durch ein Wunder am Leben. In dieser Zeit begann für ihn eine neue Zeit mit dem Herrn. Unter den Gefangenen befanden sich auch Christen, die um ihres Glaubens willen verurteilt worden waren. Mit ihnen hatte Johann Gemeinschaft, und durch ihre Predigten fanden viele Menschen zum Glauben. Auch Johann bekehrte sich während seiner Gefangenschaft im Jahr 1952 und wurde Mitglied der Gemeinde Christi in Workuta.

Das geistliche Leben ließ sich selbst in der Deportation nicht auslöschen – es bestand im Untergrund fort. In den Arbeitslagern bildeten sich kleine Gruppen von Gläubigen, die unter größter Geheimhaltung zusammenkamen. Man nannte sie die „Baracken-Gemeinden“.

 

Im Jahr 1956 kam Johann auf Bewährung frei. Zu dieser Zeit schloss er den Bund mit dem Herrn durch die Wassertaufe. In den Baracken versammelten sich die Gläubigen weiterhin, beteten und lasen das Wort Gottes. Die Verkündigung geschah im Verborgenen, unter schwierigsten Umständen. Oft gab es nur ein einziges Exemplar des Evangeliums, das reihum gelesen wurde.

Die Christenverfolgung ging unvermindert weiter. In halbfertigen Baracken versteckten sich die Gläubigen vor den Verfolgern.

Prediger legten oft weite Strecken zu Fuß oder mit Pferdewagen zurück, um die verstreuten Gemeinden zu besuchen. Versammlungen fanden auch in überfüllten Lehmhütten (Semljanka) statt. Wurde jemand beim gemeinsamen Gebet ertappt, wurde er für 15 Tage in die Strafzelle gesperrt und anschließend in ein Straflager überführt.

Die Strafzellen waren kleine, enge Kammern, in denen man sich kaum bewegen konnte – ohne Möglichkeit zu sitzen oder zu liegen. Vor dem Eintritt musste sich der Gefangene entkleiden. Manche Zellen waren völlig vereist, andere von Ratten befallen, die die Häftlinge angriffen. Ein Überleben in solchen Kammern schien fast unmöglich.

Doch trotz all dieser grausamen Umstände entstanden Gemeinden – in der Gefangenschaft, in der Trudarmee und in den Sondersiedlungen – und sie wuchsen weiter.

 

Begnadigung

Nach dem Tod Stalins im Jahr 1953 kam Chruschtschow an die Macht, und viele Gefangene profitierten von einer Amnestie. Zu dieser Zeit schrieb Johann eine Beschwerde an den Obersten Rat, um seine unschuldige Verurteilung überprüfen zu lassen. Ein Jahr später erhielt er schließlich die ersehnte Antwort: Er wurde begnadigt und amnestiert.

Im Jahr 1957, nach fast 14 Jahren Gefangenschaft, wurde Johann schließlich freigelassen. Mit 34 Jahren kehrte er nach Hause zurück und sah seine Familie wieder, die er zwangsweise mit 19 Jahren hatte verlassen müssen.

 

Eine Amnestie beseitigte jedoch weder das ursprüngliche Urteil noch die gesellschaftliche Benachteiligung. Ehemalige Gefangene hatten weiterhin Schwierigkeiten, Arbeit und Wohnung zu finden.

Für Johann war es besonders wichtig, einen Wohnort zu wählen, an dem er Anschluss an eine Gemeinde finden konnte. So zog er in die Stadt Korkino in der Oblast Tscheljabinsk und wurde Mitglied der dortigen Pfingstgemeinde.

Endlich in Freiheit betete Johann nun um eine Ehefrau. Gott erhörte sein Gebet und Johann heiratete am 05. Juli 1959 in Tscheljabinsk Katharina Bergen.

In Korkino wurden ihnen fünf Kinder geboren: vier Töchter und ein Sohn.

 

Lebensabend

Am 12. Juli 1989 siedelten Johann und Katharina nach Deutschland über. Sie ließen sich mit ihrer Familie in Bruchmühlbach-Miesau nieder, wo sie bis zu ihrem Lebensende Mitglieder der Gemeinde blieben und treu die Versammlungen besuchten.

Im Jahr 2009 feierten Johann und Katharina ihre Goldene Hochzeit im Kreis von 120 Gästen und gaben Zeugnis von der Gnade Gottes in ihrem Leben. Ein Jahr später stürzte Johann, brach sich die Hüfte und musste ins Krankenhaus. Zwei Wochen nach der Operation verstarb er im Alter von 86 Jahren im Kreise seiner Familie.

Jeden Tag seines Lebens war Johann ein gutes Vorbild für seine Kinder und Mitmenschen.

 

Helene Roth

Gemeinde  Speyer