Podcast: Download (Duration: 10:27 — 7.2MB)
Kindheit und nacktes Überleben
In Ebenfeld, einem deutschen Dorf in der heutigen Ukraine, wurde den Eheleuten Otto und Ida Krüger im Winter 1928 ein Sohn geboren, den sie Willi nannten. Das Dorf gehörte zur Siedlung Kronau, die überwiegend von evangelisch-lutherischen Deutschen gegründet wurde.
Insgesamt kamen in der Familie fünf Kinder zur Welt, wovon Willi das vierte Kind war. Das erste Mädchen, Klara, starb im Säuglingsalter. Zu jener Zeit herrschte große Not und Armut. Vater und Mutter arbeiteten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in der Kolchose. Am Ende des Jahres wurde der Lohn nach der Anzahl der Arbeitstage ausgezahlt. Ernähren musste man sich jedoch vom eigenen Haushalt. Besaß man eine Kuh, war die größte Armut abgewendet.
Bei den Abgaben musste neben der Milchsteuer, die Haut vom Schwein, die Fleischsteuer und auch die Eiersteuer entrichtet werden. Dabei war es unerheblich, ob man Hühner besaß. Nach der Abrechnung am Ende des Jahres war man zudem zum Kauf einer Lotterie verpflichtet – die sogenannten „Obligationen“. Eine Witwe, die diese nicht kaufen konnte, wurde deshalb verhaftet und kehrte nicht mehr zurück. Ihre 16-jährige Tochter blieb als Waisenkind zurück und wurde kurz darauf als „Volksfeind“ verhaftet.
Bis zum Jahre 1933 schlug man sich einigermaßen durch, bis durch Missernten eine große Hungersnot das Land heimsuchte. Die Regierung kam zu Hausdurchsuchungen und konfiszierte den gesamten Vorrat an Nahrungsmitteln. Menschen, bei denen man versteckten Weizen fand, wurden verhaftet oder erschossen. Das NKWD, das Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der Sowjetunion, begann mit seiner gewaltsamen Agitation, enteignete Grundeigentümer und zwang sie zum Eintritt in die Kolchosen. Auch die von der Familie Krüger betriebene Molkerei wurde dabei nach der Enteignung Staatseigentum.
Als Willi die zweite Klasse besuchte, musste er früh aufstehen, um vor Schulbeginn seinem Vater bei der Stallarbeit und beim Hüten der Rinder und Kühe zu helfen. Er tat diese Arbeit mit Freude. Der Vater versprach ihm, dafür einen kleinen Regenmantel zu kaufen. Doch dieses Versprechen konnte er nicht einhalten, da er am 1. Februar 1937 im Zuge der großen stalinistischen Säuberung als Volksfeind verhaftet und einen Monat später erschossen wurde. In gleichem Maße verhaftete man aus dem Dorf Ebenfeld 42 Männer und 3 Frauen. Die Hinrichtungen geschahen wahllos, unbegründet und gnadenlos. Es war eine sehr böse Zeit, in der die Menschen sogar Angst davor hatten, miteinander zu sprechen.
Die vier Kinder der Familie Krüger mussten nun ohne Vater aufwachsen und halfen der Mutter so gut sie konnten. Doch sie litten und hungerten sehr. Lange konnte Willi sich noch an das Jahr 1938 erinnern. Er musste in die Schule gehen, hatte aber keine Hose. Daher nahm seine Mutter einen dünnen Sack, färbte diesen schwarz und nähte ihm daraus eine Hose, die bis zu den Knien ging. Weil sie auch keine Schuhe besaßen, gingen sie immer barfuß. Als es kalt wurde, froren die Füße immer blau an. Beim Hüten der Kälber und Rinder wärmten sie daher ihre Füße im Urin und Kot des Viehs.
Willis Mutter war schon von Kindheit an gottesfürchtig unterrichtet worden. Besonders an den kalten Winterabenden erzählte sie den Kindern von Jesus und warnte sie dabei, keinem etwas davon zu sagen, da sie sonst ebenfalls verhaftet werden würde.
Die Gläubigen versammelten sich heimlich in ihren Haushalten.
Verschleppung und Bekehrung
Zum ersten Mal sahen die Kinder Schokolade, als deutsche Soldaten im Jahr 1941 das Dorf einnahmen und Süßigkeiten an sie verteilten. Zu dieser Zeit wurden auch die ersten Gottesdienste in der Schule durchgeführt. 1944 floh die Familie Krüger nach Deutschland, wo sie in dem Ort Warthegau eingebürgert wurde. Ihr Aufenthalt in Deutschland währte jedoch nicht lang, da im darauffolgenden Jahr die russische Armee in Warthegau einfiel und die Familie nach Kasachstan in den Ort Karaganda verschleppte. Die von den Russen versprochene Rückkehr in die Heimat stellte sich als Betrug heraus. Als Verbannte wies man sie zur Arbeit in der Kohlengrube an.
Willi heiratete Ida, geborene Dunst, im Jahr 1949. Sie bekamen insgesamt 10 Kinder. Die drei letzten Kinder starben jedoch nach der Geburt. Bis 1956 standen die Deutschen unter der Kommandantur. Sie mussten sich daher in regelmäßigen Abständen bei den Behörden melden und durften ihre zugewiesenen Wohnorte nicht verlassen.
Eine Wende im Leben von Willi und seiner Frau Ida brachte das Jahr 1956. In einem Abendgottesdienst wirkte Gott gewaltig und viele Menschen bekehrten sich. Auch sie fanden zu Gott und weihten ihm in der lokalen Pfingstgemeinde in Karaganda ihr Leben. Durch den Bruder Schlack aus Sibirien erfuhren sie vom Heiligen Geist. Am gleichen Abend wurde Willi mit dem Heiligen Geist getauft. Bald darauf erfolgte die Wassertaufe zusammen mit seiner Ehefrau. Zu dieser Zeit hatten sie bereits drei Kinder.
Im selben Jahr wurde er auch zum Dienst als Diakon eingesegnet. Aufgrund seines Glaubens wurde Willi von seiner Arbeitsstelle als „Leiter der Beförderungsanlage“ in der Kohlengrube suspendiert und das Gehalt auf ein Minimum reduziert. Ungeachtet dieser Umstände bekannte Willi auf der Arbeit unbeirrt seinen Glauben an Gott. Trotz der Drohungen des KBG, sowjetischer In- und Auslandsgeheimdienst, konnte und wollte er nicht darüber schweigen.
Im Dienst für den Nächsten
Die Gläubigen versammelten sich heimlich in ihren Haushalten. Ab 1960 wurden die Gottesdienste hin und wieder durch die KGB gestört. Um die Gefahr der Kontrollen zu verringern, hielt man die Versammlungen um 5 oder 6 Uhr morgens ab. Oft gingen die Gläubigen kilometerweit zu Fuß, um an den Gemeinschaften teilzunehmen.
Das Gemeindeleben litt unter den Repressionen. Der Gemeindeälteste und zwei Diakone kamen ins Gefängnis. Die Verurteilungen geschahen nach öffentlichen Gerichtsverfahren, zu denen viele falsche Zeugen geladen wurden. Doch die Gemeinde Gottes wuchs. Die Jugend war aktiv und eiferte für den Herrn. Trotz Verfolgungen wurde das Wort des Herrn unbeirrt weitergetragen. Auf Bahnhöfen und anderen öffentlichen Stellen zeugte dabei die Jugend mit Gesang und Predigt vom Herrn.
Willi kümmerte sich um die Familien, deren Väter in Gefängnissen saßen und ohne jede Unterstützung vom Staat durchkommen mussten. 1961 kam es schließlich eines Nachts auch bei der Familie Krüger zu einer Hausdurchsuchung. Etwa um halb 4 Uhr morgens hämmerte es an den Klappläden. Die Familie wurde jäh aus dem Tiefschlaf gerissen und das Haus fast 24 Stunden lang durchsucht. Jeder Winkel, selbst die Kohle im Schuppen, wurde inspiziert. Die alte Familienbibel mit Goldverschluss und Prägung wurde hierbei beschlagnahmt und der Vater Willi Krüger verhaftet.
Seine Frau weinte bitterlich, während ihre Kinder sich an ihrem Rock festhielten. Doch Gott schenkte Gnade und Willi wurde nach dem Verhör am nächsten Morgen aus dem Gewahrsam entlassen, während seine anderen Glaubensbrüder zu fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt wurden.
Bruder Willis höchste Aufgabe war immer der Dienst an seinen Nächsten.
Willi sah es als seinen Dienst, diesen Familien zu helfen, sie mit Lebensmitteln zu versorgen, für sie zu beten und sie zusammen mit der Gemeinde finanziell zu unterstützen. Diesen Lebenswandel lebte er seinen Kindern vor und auch sie beteiligten sich am Besuch der anderen Familien, um ihnen zu helfen.
Obwohl die Familie auf engem Raum lebte, waren Gäste immer willkommen. Eines Tages stellte seine Frau fest, dass die Lebensmittel aufgebraucht waren und weitere Gäste nicht mehr versorgt werden konnten. Sie hatten kein Brot und keine Butter mehr. Aber auch diese Sorge überließen sie dem Herrn. Unerwartet klingelte es spät abends an der Tür, Bruder Erhard Dojan trat herein und brachte einen großen Laib Brot, Butter und eine Gans. Willis Frau bereitete ein Essen zu und war dankbar, dass Gott für sie gesorgt hatte.
„Eine reine und makellose Frömmigkeit vor Gott, dem Vater, ist es, Waisen und Witwen in ihrer Bedrängnis zu besuchen und sich von der Welt unbefleckt zu bewahren“ (Jak 1,27).
Treu bis zum Tod
1977 wurde Willi zum Ältesten in der Gemeinde Karaganda eingesegnet und 1986, kurz vor der Ausreise nach Deutschland, zum Bischof berufen. Diesen Dienst erfüllte er mit voller Hingabe bis zu seinem Tod. Seine höchste Aufgabe war immer der Dienst an seinen Nächsten. Im Jahr 1986, nachdem er vor Gott in ein Fasten getreten war, wurde ihm und seiner Familie die Ausreise nach Deutschland erteilt. 1989 verstarb seine Mutter Ida Krüger im Alter von 91 Jahren und im Jahr darauf auch seine Ehefrau Ida im Alter von 62 Jahren. Doch Gott ließ diese Traurigkeit nicht lange währen und er schloss kurz darauf den zweiten Ehebund mit Lydia Krüger, geb. Schneider. Aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor.
Selbstlos und treu diente Willi in seiner Gemeinde weiterhin dem Herrn. In seinen Predigten hörte man klare und einfache, aber kraftvolle Wahrheiten wie das Wort aus Micha 6,8: „Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: Was anders als Recht tun, Liebe üben und demütig wandeln mit deinem Gott?“
Er predigte diese Worte nicht nur, sondern lebte sie auch. Seine mahnenden Worte, es werde nicht immer so sein, erfüllen sich heute.
Am 11.11.2021 ging Willi Krüger im Alter von 92 Jahren zu seinem Herrn und Heiland Jesus Christus. Bis zu seinem letzten Atemzug betete er: „Komm Herr Jesus, komme bald.“
Helene Roth
Gemeinde Speyer