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Es gibt zwei extreme Bestrebungen im Dienst eines Predigers. Die eine besteht darin, sich vom Verkehr mit den Leuten abzuschließen. Der Mönch und der Eremit sind Beispiele dafür. Sie schlossen sich von den Menschen ab, um mehr Gemeinschaft mit Gott zu haben. Sie gingen dabei natürlich fehl. Unsere Gemeinschaft mit Gott ist nur dann von Nutzen, wenn wir ihre kostbaren Segnungen anderen weitergeben.
Die andere Tendenz ist die, den Dienst so populär wie möglich zu machen. Der Prediger ist dann nicht mehr ein Mann Gottes, sondern ein Mann interessanter Angelegenheiten, ein Mann des Volkes. Er betet nicht, weil sein Dienst den Menschen gilt. Wenn er die Menschen in Bewegung setzen kann, ein Interesse in ihnen wecken, ein Interesse an der Arbeit der Kirche wecken kann, dann ist er zufrieden. Sein persönliches Verhältnis zu Gott spielt bei seiner Arbeit keine Rolle. Das Gebet hat wenig Platz in seinen Plänen.
Ohne viel Gebet ist es für den Prediger unmöglich, mit der göttlichen Natur seiner hohen Berufung in Harmonie zu bleiben.
Die Priorität des Gebets
Spurgeon sagt: »Natürlich zeichnet sich der Prediger vor allem als ein Mann des Gebets aus. Er betet wie ein gewöhnlicher Christ, sonst wäre er ein Heuchler. Er betet mehr als gewöhnliche Christen, sonst wäre er für das übernommene Amt nicht geeignet. Wenn ihr als Prediger keine betenden Menschen seid, seid ihr zu bedauern. Wenn ihr in eurer Hingabe lau werdet, seid nicht nur ihr zu bedauern, sondern auch eure Leute und es kommt der Tag, an dem ihr beschämt und bestürzt dasteht. All unsere Büchereien und Amtszimmer sind nichtig im Vergleich zu unseren Gebetskammern. Unsere Fasten- und Gebetszeiten im Heiligtum sind in der Tat große Tage. Nie steht des Himmels Tor weiter offen; nie sind unsere Herzen der Herrlichkeit näher als dann.«
Das Beten, welches ein Dienst ist, ist nicht nur ein wenig Gebet, das wir wie Gewürze beifügen, um der Sache einen angenehmen Geschmack zu geben, sondern dieses Beten muss im Menschen leben und Blut und Knochen gestalten. Das Gebet ist keine nebensächliche Pflicht, keine brockenweise Verrichtung zu gelegentlicher Zeit, die vom Beruf und anderen Verpflichtungen des Lebens abgeknappt wird.
Es bedeutet vielmehr, dass unsere beste Zeit und Kraft dem Herrn gegeben werden muss. Es bedeutet nicht, dass das Gebet im Arbeitszimmer von den Verpflichtungen des Amtes verdrängt werden darf. Es bedeutet, dass das Gebet an erster Stelle stehen muss, dann erst kommen Studierzimmer und Amtsverrichtungen. Auf diese Weise werden durch das Gebet Studium und Arbeit belebt und wirkungsvoll gemacht. Das Gebet, welches den Dienst beeinflussen soll, muss für das Leben tonangebend sein.
Die Art des Gebets
Das Gebet, das dem Charakter Farbe und Richtung gibt, ist kein angenehmer, flüchtiger Zeitvertreib. Es muss in das Herz und Leben eindringen wie Christi »starkes Geschrei und Tränen«. Es muss ein großes Verlangen in der Seele wirken wie bei Paulus. Es muss ein inneres Feuer und eine Kraft sein wie das »wirksame, inbrünstige Gebet« des Jakobus.
Das Gebet ist nicht etwa eine nebensächliche Gewohnheit, die uns eingeprägt wurde, als wir noch am Schürzenzipfel unserer Mutter hingen, noch ist es das Tischgebet von einer Viertelminute vor dem einstündigen Mittagessen. Das Gebet ist eine höchst ernsthafte Arbeit unserer wichtigsten Jahre. Es erfordert mehr Zeit und Appetit als unsere längsten Mahlzeiten und größten Feste. Dem Gebet, das aus unserem Predigen viel macht, muss viel Zeit eingeräumt werden. Die Art unseres Betens wird die Art unseres Predigens bestimmen. Das Gebet verleiht der Predigt Kraft, Salbung und bleibende Wirkung. In jedem Dienst, der Gutes wirkte, war schon immer das Gebet eine wichtige Angelegenheit.
Der Prediger muss vor allem ein Mann des Gebets sein. Sein Herz muss in der Schule des Gebets ausgebildet werden. Nur dort kann das Herz predigen lernen. Kein Lernen kann das Beten ersetzen. Kein Fleiß, kein Studium, keine Gaben werden den Mangel an anhaltendem Gebet ausfüllen.
Zu den Menschen über Gott zu reden ist etwas Großes, aber zu Gott über Menschen zu sprechen ist noch größer. Wer nicht gelernt hat, mit Gott über Menschen zu sprechen, wird nie gut und erfolgreich mit Menschen über Gott sprechen können. Nicht nur das: Worte ohne Gebet sind tötende Worte.
Die Wirkung des Gebets
Das Gebet muss im Leben des Predigers, wie auch in seinem Studierzimmer und auf seiner Kanzel, eine deutliche, alles durchdringende Kraft und ein wesentlicher Bestandteil sein. Es darf keine untergeordnete Rolle spielen. Um sich in selbstverleugnendem Gebet zu üben, soll der Prediger auf seinen Meister schauen, der morgens vor Tagesanbruch aufstand und an einem einsamen Ort betete. Das Studierzimmer des Predigers sollte eine Gebetskammer, ein Bethel, ein Altar und eine Leiter sein, auf der jeder Gedanke himmelwärts steigen kann, ehe er die Menschen erreicht. Dann ist jeder Teil der Predigt von Himmelsluft erfüllt und tief in seiner Wirkung, weil Gott dem Prediger in seinem Studierzimmer begegnet war.
Das Gebet ist keine nebensächliche Pflicht. Es ist unsere beste Zeit und Kraft, die wir dem Herrn weihen.
Eine Lokomotive setzt sich nie in Bewegung, bis das Feuer angezündet ist. Ebenso ist auch das Predigen mit all seinem Mechanismus, seiner Perfektion und Politur in Bezug auf seine geistliche Wirkung tot, wenn nicht das Gebet das Feuer angezündet und den Dampf bewirkt hat. Die Struktur, Feinheit und Kraft der Predigt ist wie taubes Gestein, wenn nicht der mächtige Impuls des Gebetes dahintersteht. Der Prediger muss durch das Gebet Gott den Menschen nahebringen, ehe er die Menschen durch seine Worte Gott nahebringen kann. Der Prediger muss Zugang zu Gott gehabt haben, ehe er Zugang zu den Menschen haben kann.
Die Dringlichkeit des Gebets
Es ist nötig, immer wieder zu wiederholen, dass das Gebet als bloße Gewohnheit, als eine routine- oder berufsmäßige Verrichtung, etwas Totes und Faules ist. Solches Beten hat nichts zu tun mit dem Beten, wozu wir hier auffordern. Wir betonen wahres Beten, das jeden geistlichen Bestandteil im Wesen des Predigers einschließt und in Brand steckt – Gebet, das aus der lebendigen Einheit mit Christus und der Fülle des Heiligen Geistes geboren ist, das den überfließenden Quellen zarten Mitgefühls und unermüdlicher Sorge um das ewige Wohl des Menschen entspringt, ein gründliches Wissen um die schwierige Aufgabe des Predigers und um die dringende Notwendigkeit der Hilfe Gottes. Gebet, das auf dieser ernsten und tiefen Überzeugung gegründet ist, ist das einzig wahre Beten. Predigen, von solchem Beten geprägt, ist das einzige Predigen, das den Samen des ewigen Lebens in die Menschenherzen sät und die Menschen für den Himmel zurüstet.
Zwar mag es volkstümliches Predigen, hinreißendes Predigen, Predigen mit viel intellektueller und geistiger Kraft geben, das einen guten Anschein hat, obgleich wenig oder kein Gebet dahintersteht. Aber das Predigen, das Gottes Ziele erreicht, muss vom Text bis zum Vortrag aus dem Gebet heraus geboren sein und durch die Gebete des Predigers wie ein Keim in den Herzen der Hörer lebendig bleiben.
Wir mögen die geistliche Armut unseres Predigens auf viele Arten entschuldigen, aber das wahre Geheimnis liegt in dem Mangel an eindringlichem Gebet um Gottes Gegenwart in der Kraft des Heiligen Geistes. Es gibt ungezählte Prediger, die meisterhaft predigen können, aber die Wirkungen sind nur von kurzer Dauer. Sie dringen überhaupt nicht wirksam in die Bereiche des Geistes ein, wo der erschreckende Kampf zwischen Himmel und Hölle ausgetragen wird, weil sie nicht durch das Gebet mächtig und siegreich gemacht wurden.
Die Prediger, die große Resultate für Gott erzielen, sind die Männer, die in ihrem Flehen Gott überwunden haben, ehe sie es wagten, die Menschen zu überwinden. Die Prediger, die am mächtigsten in ihrem Gebetskämmerlein vor Gott sind, sind auch am mächtigsten auf der Kanzel vor den Menschen.
Die Bedeutung des Gebets
Prediger sind Menschen und werden den starken Strömungen menschlicher Bestrebungen ausgesetzt und oft auch von ihnen gefangen. Beten ist geistliche Arbeit, und die menschliche Natur liebt keine anstrengende geistliche Arbeit. Die menschliche Natur möchte bei günstigem Wind auf glatter See in den Himmel segeln. Beten ist demütigende Arbeit. Es demütigt den Verstand und den Stolz, kreuzigt die Prahlerei und unterschreibt unseren geistlichen Bankrott. Alles dies ist für Fleisch und Blut schwer zu ertragen. Somit kommen wir zu einem der schreienden Übel unsrer Zeit, vielleicht aller Zeiten: wenig oder kein Gebet. Von diesen zwei Übeln ist vielleicht wenig Beten schlimmer als kein Beten. Wenig Beten ist in gewisser Hinsicht Heuchelei, eine Entlastung für das Gewissen, ein Schauspiel und eine Selbsttäuschung.
Wie wenig wir das Gebet schätzen, wird daraus deutlich, wie wenig Zeit wir ihm einräumen. Die Zeit, die der Durchschnittsprediger dem Gebet einräumt, zählt kaum im täglichen Programm. Nicht selten kommt es vor, dass der Prediger nur im Schlafanzug an seinem Bett betet, und bald ist er auch schon im Bett. Vielleicht betet er auch morgens noch hastig ein paar Sätze, ehe er sich ankleidet. Wie schwach und fruchtlos ist solches Beten im Vergleich zu der Zeit und Kraft, die heilige Männer in der Bibel dem Gebet widmeten! Wie arm und gering ist unser unbedeutendes Beten, verglichen mit den Gewohnheiten wahrer Gottesmänner aller Zeiten! Menschen, die das Gebet zu ihrer Hauptaufgabe machen und sich Zeit dazu nehmen, denen vertraut Gott die Schlüssel zu Seinem Reich an. Solches Beten ist das Zeichen und Siegel der großen Führer in Gottes Reich und das Pfand der überwindenden Kräfte, mit denen Gott ihre Arbeit krönt.
Der Prediger ist beauftragt, sowohl zu predigen als auch zu beten. Seine Sendung ist unvollständig, wenn er nicht beides tut.
Der Prediger mag mit aller Beredsamkeit der Menschen und Engel sprechen; aber wenn er nicht mit einem Glauben beten kann, der den ganzen Himmel zu seiner Hilfe holt, wird sein Predigen in Bezug auf den immerwährenden Lobpreis Gottes und die Errettung unsterblicher Seelen wie »tönendes Erz« und »eine klingende Schelle« sein.
E. M. Bounds (1835 – 1913)
Aus „Kraft durch Gebet“ mit freundlicher Genehmigung von IHREMEDIEN