Hungerjahre in Sibirien

/, Ausgabe 3 | 2023/Hungerjahre in Sibirien
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Hungerjahre in Sibirien

2023-10-02T17:47:23+02:0030. September 2023|

Wir leben heute in einem Land ohne Verfolgung und versammeln uns in Gebetshäusern. Menschen aus der ehemaligen UdSSR wissen diesen Segen besonders zu schätzen. „Ihr werdet in ein Land kommen, in dem Milch und Honig fließen“, zitierte Bruder Ernst Guse, bereits in der Ewigkeit, Gottes Verheißung an das Volk Israel, und gibt uns durch seine Erinnerung Einblicke in die Vergangenheit in Russland.

 

Enteignung

Dem Ruf der Zarin Katharina folgend kamen Deutsche bereits im 18. Jahrhundert nach Russland, um das Land aufzubauen. Die Zeiten änderten sich und nach dem Regierungswechsel 1917 wurde den Bauern Hab und Gut genommen. Es kam eine harte Zeit – auch für die Großeltern und Eltern von Ernst Guse. Sie mussten aus Wolhynien (Ukraine) nach Sibirien umsiedeln, um ihre Familien mit dem Nötigsten zu versorgen. Aber auch dort machte man ihnen das Leben schwer.

 

Im Jahre 1935 wurde der Großvater von Ernst auf seinem Hof erschossen. Die Familie von Ernst wohnte einige Kilometer weit entfernt. Sie hatten einige Felder, die sie per Hand bestellten. Das war eine harte Arbeit. Der Vater besaß ein Pferd und einen Pflug. Eines Nachts kamen die Polizisten auch in ihr Haus und befahlen dem Vater mitzukommen. Ernst war gerade fünf Jahre alt, als sein Vater verhaftet wurde. Die Kuh und das Pferd samt Gespann wurden ebenfalls mitgenommen. Dieses Schicksal traf auch viele andere Familien.

Es war Erntezeit und die Familie begann zu ernten, was der Vater gesät hatte. Mit der Sichel wurde das Getreide geschnitten und zu Garben gebunden. Kurz nachdem alles abgeerntet war, kamen Männer mit Pferdewagen angefahren und nahmen im Auftrag der Regierung alle Garben mit. Selbst der Schober mit Heu, das die Mutter mit der Sense geschnitten hatte, wurde beschlagnahmt. Hunger und Frost begleiteten sie über den Winter, bis endlich der Frühling kam. Einmal am Tag gab es eine dünne Suppe. Nachdem der Schnee geschmolzen und die ersten Blumen gewachsen waren, ging die Mutter in den Wald, um Schlüsselblumen zum Essen zu pflücken.

 

Ernst Guse (1931 - 2023)

 

Auf der Suche nach Brot

Als der Sommer kam, machte sich die Mutter mit ihren fünf Kindern auf den Weg, um Arbeit und Nahrung zu suchen. Nach einem Tagesmarsch kamen sie am Fluss Irtysch an. Mit einem kleinen Schiff ging es nach Omsk. Von dort aus kamen sie in die Dörfer und suchten bei Verwandten Unterkunft. Manchmal hatten sie bis zu zwei Tagen kein Essen, manchmal fanden sie für einige Tage Unterkunft.

 

Dann erfuhren sie, dass 200 Kilometer nördlich von Omsk einige Bekannte wohnten, die im Wald beim Holzfällen arbeiteten. Diesen weiten Weg legte die Familie nun zurück – barfuß. Auch dort kamen sie bei Verwandten unter. Die Menschen dort lebten in dürftigen Lehmhütten und arbeiteten im Wald, auch die Mutter. Einmal die Woche bekamen sie Brot. Im Sommer erkrankte die Mutter jedoch so sehr, dass sie nicht mehr arbeiten konnte. Ernst, mittlerweile 8 Jahre alt, musste nun mit seinem ein Jahr älteren Bruder Wilhelm betteln gehen. Sie gingen in die russischen Dörfer, um etwas Brot zu bekommen. Abends baten sie Menschen um eine Übernachtungsmöglichkeit und es fand sich immer wieder jemand, der sie über Nacht beherbergte.

Meist schliefen sie auf dem Ofen und früh am Morgen gingen sie ins nächste Dorf. Manchmal bekamen sie auch Schläge von den größeren Jungen auf der Straße. Nach etwa einer Woche beschlossen sie, den weiten Weg nach Hause zu gehen. Barfuß gingen sie über die mit Gras bewachsenen Felder und wurden mit der Zeit sehr müde. Wilhelm schlug vor, dass sie sich an den Wegrand setzen und ausruhen sollten. Etwas abseits vom Wegrand schliefen beide tief und fest ein. Wie lange sie schliefen, wussten sie nicht. Als sie erwachten, lag neben ihnen eine große, dicke, eingerollte Otter. Vorsichtig, um die giftige Schlage nicht zu wecken, machten sich beide auf den Heimweg. Das bisschen Brot, das sie heimbrachten, trocknete die Mutter.

 

In den Wäldern wuchsen Johannisbeersträucher. Oft ging die Familie während des Sommers in den Wald, um die schönen, großen Beeren zu pflücken. Manchmal sammelten sie auch Pilze.

Dann kam der Herbst und die Mutter sagte, dass sie nicht länger hierbleiben und der Familie zur Last fallen könnten. So machten sie sich wieder auf den Rückweg – 200 Kilometer zu Fuß. Der Jüngste war mittlerweile drei Jahre alt, jedoch so schwach, dass er oft getragen werden musste. Wenn es dämmerte, suchten sie sich einen Schlafplatz am Waldrand, sammelten ein wenig Holz und zündeten ein kleines Feuer an. Dann legten die Kinder sich um das Feuer und schliefen.

Am nächsten Tag ging der Fußmarsch weiter, bis sich eine Frau in einem Dorf erbarmte und die Familie aufnahm. Die Mutter arbeitete bei anderen Familien und bekam dafür ein Mittagessen und Abendbrot, die Kinder blieben tagsüber allein.

 

Der Krieg und die Nachwehen

Im Sommer 1941 begann der Krieg und alle Männer wurden in Arbeitslager geschickt. Bis zum November wurden auch die Frauen eingezogen. Ernst kam nun in eine Familie, in der er zehn Jahre als Knecht arbeitete. Als diese Familie von Omsk nach Nordkasachstan zog, ging auch Ernst mit. Mit 17 Jahren bewarb er sich für die Holzarbeiten im Wald und gab jede verdiente Kopeke ab. 1950 wurde er von der Regierung nach Karaganda gesandt, um in den Kohlengruben zu arbeiten. Sie waren etwa 30 Mann, die nicht wussten, wohin es ging.

Statt nach Karaganda brachte man sie in die Kasachische Wüste. Ihre Aufgabe war, hohe Erddämme für die neue Eisenbahnlinie aufzuschütten. Es gab einen leeren Schuppen und jeder bekam einen Hammer und Nägel, um sich ein Bett zu zimmern. Als Kissen diente ein Brett. Die Arbeit war hart und die Hitze machte die Arbeit fast unerträglich. 13 Stunden am Tag wurde gearbeitet und es gab täglich 400 Gramm Brot. Die Brotbackbleche wurden mit dem Fett vom Trecker gefetter – danach schmeckte auch das Brot. Nach sechs Monaten wurde Ernst endlich nach Hause entlassen.

 

Am 8. Februar 1951 heiratete Ernst ein Waisenmädchen. Sein Glück sollte jedoch nicht lange währen. Vier Tage später kamen Polizisten und befahlen ihm, bei dem Bau eines Krankenhauses mitzuhelfen, das 30 Kilometer entfernt war. Er sollte sich morgens früh um 9 Uhr dort einfinden. Ernst weigerte sich, da es frostig war, etwa -30 Grad, und er die ganze Nacht hätte gehen müssen, um pünktlich zu sein. Diese Weigerung musste er schwer büßen. Er stand als Deutscher unter der Kommandantur und musste Befehlen gehorchen. Die Polizisten brachten ihn ins Gefängnis. Die kahle Zelle wurde abgeschlossen, auf dem kalten Betonboden musste er schlafen oder sitzen. Acht Tage lang wurde er durch Hunger und Durst gequält. Als man ihn entließ, um die Arbeit beim Bau aufzunehmen, floh er 30 Kilometer nach Hause. Seine Frau war überglücklich, ihn lebend wieder zu sehen.

 

Die Wahrheit

Vier Jahre später zog das Ehepaar Guse in ein Dorf, in dem Deutsche wohnten. Ernst baute ein Haus und bald wurden in seinem Haus Versammlungen durchgeführt. Es wurde gebetet, gesungen und Gottes Wort gelesen. Ein Freund von Ernst besaß ein Predigtbuch, aus dem Predigten vorgelesen wurden. Die Menschen, die zu den Versammlungen kamen, waren lutherisch.

25 Kilometer entfernt gab es eine Gemeinde mit Christen, die geistgetauft waren. Obwohl die Pfingstler schlecht angesehen waren und auch schlecht über sie geredet wurde, beschloss Ernst, die Gemeinde zu besuchen. Zuvor fastete er zwei Tage und bat Gott darum, Er möge ihm den richtigen Weg offenbaren. Auch seine Frau war dabei und sie machten zu Fuß den Weg dorthin. Bei Glaubensgeschwistern blieben sie über Nacht. Der nächste Tag war ein Sonntag und sie gingen gemeinsam zur Versammlung. Die Gemeinde war nicht groß. Der Gottesdienst war gesegnet und Ernst erkannte die volle Wahrheit dessen, was ihm bisher verborgen war. Er kam nach Hause und berichtete, er habe die Wahrheit gefunden. Nicht alle waren von dieser Nachricht erfreut und nahmen ihm das Predigtbuch weg. Von nun an wurden keine Predigten aus dem Buch mehr vorgelesen, doch die Versammlungen wurden weiterhin durchgeführt. Einige bekehrten sich und langsam wuchs die Gemeinde.

Im Januar 1956 wurden Ernst und seine Frau mit dem Heiligen Geist getauft und schlossen den Bund mit Gott durch die Wassertaufe. Das war etwa im Juli. Alles musste heimlich geschehen. Sie fuhren zu einem See, wo die Taufe durchgeführt wurde. So eine Freude, wie sie Ernst in dem Moment verspürte, hatte er bis dahin noch nie erlebt. Es war, als ob er von der Erde abgehoben wurde. Er war nun Gottes Kind!

 

An vielen Orten auf dieser Erde hatte er gelebt, verschiedene Zeiten und Umstände erlebt und durchlebt, aber immer hatte er die Sehnsucht nach der ewigen Heimat im Herzen.

Er ist für viele ein Vorbild im selbstlosen Dienen sowie im stillen und geduldigen Ertragen von Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten geworden. Dabei bewahrte er stets seinen Humor und die Bescheidenheit. Die Liebe zur Bibel und zum Singen war die Quelle seiner Kraft. Er war ein Mann des Friedens.

Am 19.01.2023 durfte Bruder Ernst im Alter von 92 Jahren zu seinem himmlischen Vater und Heiland heimgehen. Er hinterließ 10 Kinder, 95 Enkel, 314 Urenkel und sieben Ururenkel. Sein Appell an die nachfolgende Generation war: Weiht euer Leben dem Herrn!

„Im Eifer lasst nicht nach, seid brennend im Geist, dient dem Herrn!“ (Röm 12,11).

 

Bearbeitet von Helene Roth (Gemeinde Speyer) nach einer Audio-Aufnahme von Br. Ernst