Die Zeit, in der wir leben, ist von Streitigkeiten und Konflikten geprägt. Die Menschen scheinen immer mehr die Fähigkeit zu verlieren, friedlich zusammenzuleben. Dabei bildet die Gemeinde Gottes leider keine Ausnahme. Doch wir Christen sind dazu berufen, Frieden zu stiften: „Die Frucht der Gerechtigkeit aber wird in Frieden denen gesät, die Frieden stiften“ (Jak 3,18). Die Nachsicht ist eine unterschätzte Kraft, um Frieden und Liebe zu bewahren.
Die Friedlosigkeit der Welt
Eines der vermutlich größten Ursachen für die Probleme auf dieser Welt ist die Unfähigkeit der Menschen, den Frieden zu wahren. Ob wir nun wollen oder nicht, wir leben fast ständig im Schatten eines Krieges. In einigen Ländern ist er gerade in vollem Gange, in anderen Gebieten wird fest mit einem Ausbruch gerechnet. Wiederum in anderen Gegenden der Erde werden die Waffen für all diese kriegerischen Konflikte hergestellt und dargeboten. Und wir alle leben in der stummen Befürchtung, dass all diese Rüstungsanstrengungen nicht bloß zum Schein unternommen werden. Dieses Phänomen der Friedlosigkeit finden wir auch in der Gemeinde Gottes. Es gibt deshalb so viel Ungerechtigkeit in den Gemeinden, weil die meisten Menschen es leider nicht schaffen, den Frieden zu bewahren. Aus den verschiedensten Gründen verliert man viel zu schnell seinen inneren Frieden. Die Ursachen können persönlicher Natur sein etwa wegen Krankheit, Misserfolg oder einfach, weil das Leben nicht so verläuft, wie man es sich wünscht. Auch der Druck der äußeren Umstände und das Verhalten unserer Mitmenschen können dazu führen, dass wir den Frieden verlieren.
Das Ausmaß, in dem ein Christ gegenüber seinen Mitmenschen Nachsicht walten lässt, ist der Gradmesser seiner geistigen Erhabenheit.
Nachsicht üben und Frieden wahren
Wir wollen unsere Aufmerksamkeit heute auf eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften lenken, die zur Wahrung des Friedens beiträgt – die Nachsicht.
Im Epheserbrief lesen wir die folgende Unterweisung: „So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen worden seid, indem ihr mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut einander in Liebe ertragt und eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens: Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, über allen und durch alle und in euch allen. Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe des Christus“ (Eph 4,1-7). Einen Gedanken möchte ich daraus im Besonderen herausgreifen: „einander in Liebe ertragen“. Aus dem Russischen übersetzt heißt es: „seid miteinander nachsichtig in Liebe“.
Die Wortbedeutung von „Nachsichtigkeit“ ist ein wenig kompliziert. Im üblichen Sprachgebrauch beschreibt sie die Einstellung einer Person, verständnisvolle, verzeihende Güte zu zeigen. Im Kontext des Wortes Gottes betrachtet handelt es sich dabei um die Veränderung der Haltung einer Person, die geistig über einer anderen steht, wobei eine Abwärtsbewegung stattfindet. Würde man sich aufwärts bewegen, wäre das eine Erhöhung. Doch der Apostel Paulus ermutigt zur Nachsicht gegenüber anderen und das erfordert geistige Größe. Was ist „geistige Größe“ im Verständnis des Gläubigen und in den Augen Gottes? In der Welt sind die Menschen in der Regel herablassend gegenüber Armen und Schwachen. Aber beachten wir, wie der Apostel Paulus schreibt: „So ermahne ich euch nun, […], dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen worden seid“ (Eph 4,1). Das bedeutet, dass die Bezeichnung „Christ“ mich dazu verpflichtet, ausnahmslos allen Menschen gegenüber nachsichtig zu sein, vor allem gegenüber meinen Brüdern und Schwestern. Das Ausmaß, in dem ein Christ gegenüber seinen Mitmenschen Nachsicht walten lässt, ist der Gradmesser seiner geistigen Erhabenheit. In den Augen der Welt wird Nachsicht häufig mit Schwäche gleichgesetzt. Das Wort Gottes ermutigt uns jedoch dazu, nachsichtig miteinander umzugehen, weil es Gott gefällt. Es ruft uns nicht zu jener „Größe“ auf, die mit Stolz verbunden ist, sondern dazu, uns auf eine geistige Ebene zu entwickeln, die uns befähigt, anderen zu helfen, sie zu unterstützen und zu ertragen.
Ein stolzer Mensch spricht seinem Nächsten das Recht ab, nach seinem eigenen Gutdünken zu handeln und seine Meinung zu äußern. Der Stolze denkt, nur er sei im Recht und jeder müsse seinen Ansichten folgen. Der Gipfel dieses Zustands ist der Stolz des Teufels. Er war mit Gott uneins, doch anstatt sich zu demütigen, wollte er sich beweisen. Das war sein Untergang. Der Stolze hindert den Nächsten am Sprechen – was kann der schon Gescheites sagen? Oder er hält andere davon ab, etwas zu tun oder Verantwortung zu übernehmen – die werden ja sowieso alles falsch machen! Im Gegensatz dazu erklärt sich die Nachsicht bereit, den anderen er selbst sein zu lassen. Wichtig ist nur, dass man Gott in allem treu bleibt!
Ich gestehe meinem Nächsten das Recht zu, eine Meinung zu haben und darüber zu sprechen. Ich höre ihn an und erweise ihm damit meine Achtung.
Christen sind berufen, Friedensstifter zu sein
Wir üben Nachsicht, wenn wir uns gegenseitig das Recht zugestehen, eine Meinung zu haben, eigenständig zu denken und zu handeln, und handeln dabei im Sinne Gottes. Es ist gar nicht leicht, das im Leben umzusetzen. Deshalb drückt es der Apostel Paulus auch so aus: „So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn“ (Eph 4,1). Als jemand, der am eigenen Leib erfahren hat, was richtig und was falsch ist, appelliert er an die Gemeindemitglieder, dem besonderen Stand, zu dem sie berufen sind, würdig zu sein. In anderen Übersetzungen heißt es: „Handle würdig der Berufung“. Wir Christen sind dazu aufgerufen, Menschen mit Nachsicht zu sein. Schaut mal, wie interessant das ist. Ich gestehe jemandem das Recht zu, eine Meinung zu haben und darüber zu sprechen. Ich höre ihn an und erweise ihm damit meine Achtung. Auf einer gewissen Ebene erniedrige ich mich und gleichzeitig verneige ich mich respektvoll vor ihm, denn ich schätze ihn hoch genug, ihn seine eigene Meinung haben zu dürfen. So heißt es im Evangelium: „Sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst“ (Phil 2,3). Ich muss verstehen, dass mein Nächster ebenfalls eine Meinung haben kann und vielleicht sogar im Recht ist, auch wenn ich nicht damit einverstanden bin. Was wird von mir also verlangt? In aller Demut, mit Sanftmut und Geduld zuzuhören und zu versuchen, jederzeit einen einheitlichen Geist zu bewahren – und das nicht bloß mit Worten.
Andere Meinungen in Liebe ertragen
Wenn wir mit Geschwistern einmütig beieinandersitzen und alle einer Meinung sind, dann erfordert es keine besondere Sanftmut und Langmut, um den Frieden zu wahren. Doch wenn man plötzlich auf eine gegensätzliche Meinung stößt, wenn jemand abweichend und anders denkt, will man am liebsten ausrufen: „Da irrst du dich gewaltig!“ Aber Gott sagt dir etwas anderes. Lass den anderen zu Wort kommen, denn er hat seine eigene Meinung über die Dinge und vielleicht sogar über dich, und diese Meinung lässt sich nicht sofort ändern. Nachsicht ist eine enorme Kraft, um Frieden und Liebe gegenüber einem anderen Menschen zu bewahren. Warte nicht in deinem Inneren darauf, dass das Gericht Gottes über jemanden hereinbricht, von dem du glaubst, dass er so sehr im Unrecht ist. Und wenn er sich tatsächlich irrt, dann wird der große Gott, der Richter der ganzen Erde, nicht ungerecht handeln. Das Wichtigste ist, dass wir uns einander in Liebe zuwenden. Gott möge uns Mitgefühl und Geduld für diejenigen schenken, die in ihren Gedanken verirrt sind. Nicht umsonst spricht der Apostel von „Langmut“, die nötig ist. Auch müssen wir versuchen, die „Einheit des Geistes“ zu bewahren, indem wir unsere Nächsten mit dem „Band des Friedens“ verbinden. In einer anderen Übersetzung heißt es: „Bemüht euch mit aller Kraft, die Einheit des Geistes zu bewahren.“
Nachsicht ist eine enorme Kraft, um Frieden und Liebe gegenüber einem anderen Menschen zu bewahren.
Nachsicht ist nicht Gleichgültigkeit
Wir Menschen sind oft sehr unterschiedlich in unserem Denken und können uns auch mal mit unseren Gedanken verirren. Wenn wir aufmerksam gegenüber Gottes Reden sind, wird uns auffallen, wie häufig der Heilige Geist heute mangelnden Frieden und große Uneinigkeit unter den Gläubigen beklagt. Doch der Herr lässt Seine Gemeinde nicht im Stich und bringt Seinen Zorn nicht über sie. Er bewahrt und rettet sie und hilft Seinen Kindern auf jede erdenkliche Weise. Jeder Einzelne ist gefordert, sich nicht von seinem „andersdenkenden“ Nächsten zu distanzieren, sondern langmütig zu sein, den Schmerz des anderen zu erkennen und mit aller Kraft den Frieden mit ihm zu halten. Im praktischen Leben kann das so aussehen, dass ich den anderen ausreden lasse und ihn nicht unterbreche, selbst dann, wenn er sich wirklich täuscht. Gerade heute, wo der Unfrieden um uns herum immer mehr zunimmt, ist es enorm wichtig, dass in uns Frieden herrscht und dass echte Gerechtigkeit gesät wird, indem wir uns bemühen, nicht zu sündigen. Dabei darf unsere Nachsicht niemals in eine Art Gleichgültigkeit gegenüber dem Denken des anderen umschlagen – auch dies wäre Sünde.
Die besondere Not der heutigen Zeit
Wir leben in einer Zeit großer geistlicher Herausforderungen. Da gibt es ein Land, in dem Kinder im Schulfach „Über wichtige Dinge sprechen“ Hass auf ihr Nachbarland vermittelt bekommen. Und ein anderes Land verbreitet zunehmend die Ideologie, dass eine Familie mit gleichgeschlechtlichen Eltern normal sei und dass jedes Kind das Recht habe, sein Geschlecht nach Belieben selbst zu bestimmen. Und es scheint, als gäbe es keine Macht auf der Welt, die sich diesen Entwicklungen entgegenstellt. Unsere Kinder werden sehr bald vor dem Problem stehen, kaum noch einen Ort der Ruhe zu finden, vor der Informationsflut und all diesen falschen Lehren. Wo kann man sich dann noch frei äußern, ohne unterbrochen und angeklagt zu werden. Wer wird noch tolerieren, ertragen und lieben, auch wenn er mit der anderen Meinung nicht einverstanden ist? In wessen Schoß wird man Ruhe finden, wenn nicht in der Gemeinde?
Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der ich viele Gespräche mit einem weisen Bruder führte. Er war mit nichts von dem, was ich sagte, einverstanden, hörte mir aber eine lange Zeit zu. Am Ende sagte er mir jedes Mal, dass nicht er, sondern Gott meine Meinung ändern würde, weil nur er wisse, wie man sie ändern könne. Ich denke heute mit großer Dankbarkeit an diesen Bruder zurück. Nachdem er mir aufmerksam zugehört hatte, antwortete er mit großer Liebe und entließ mich dann. Ich habe einen langen Weg der Suche hinter mir, für den ich nach vielen Jahren belohnt wurde. Aber die Frucht der Wahrheit in mir wurde von denen gesät, die den Frieden bewahrten.
Wir sollten immer und in allen Dingen bestrebt sein, uns der Berufung eines Christen als würdig zu erweisen.
Vorbild für die Kinder sein – Liebe, Sanftmut und Geduld
Wir alle bedürfen des Wachstums der Frucht der Gerechtigkeit. Damit unsere Kinder die Kraft hinter unseren Worten spüren und wir die Welt mit klaren Worten und mit Wahrheit konfrontieren können. Und damit hinter unseren Worten nicht allein unsere Meinung, sondern Christus steht. Wenn Christus in uns wächst, werden unsere Kinder in jeder Hinsicht ehrenwerte Menschen sein. Ein gutes Beispiel aus der Bibel ist die familiäre Beziehung zwischen Königin Esther und ihrem Adoptivvater Mordechai. Ihre Erziehung in den richtigen Traditionen gab ihr später das Recht auf Dialog und Entscheidungsfreiheit. Und in dieser Freiheit konnten sie sich gegenseitig in der Heiligkeit unterstützen. Das haben wir heute bitter nötig. Unsere Kinder lernen Dinge, die weit von der Gerechtigkeit Gottes entfernt sind. Es wird immer schwieriger, ein Gespräch zu führen. Aber bis es soweit ist, dass sie verstehen, die Wahrheit erfahren, Christus begegnen und im Gebet zu Ihm kommen, warte ich lange und geduldig. Gleichzeitig müssen sie in mir sehen, dass ich ein solides biblisches Fundament habe, auf der ich unsere Beziehung aufbauen kann.
Der Apostel Paulus weist uns darauf hin, indem er seine Gedanken mit den wunderbaren Worten beendet: „Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe des Christus“ (Eph 4,7). Das bedeutet, dass jeder Christ ein Fundament nach dem Maß der Gabe des Christus hat. Selbst dann, wenn ich mich in einer Situation befinde, in der mir jemand mit einer anderen Meinung hart widerspricht. Ich muss verstehen, dass dieser Jemand ein Mensch wie ich ist, der eine Meinung hat. Gott nimmt keinem von uns seine Gnade weg, und jeder von uns hat die Gnade erhalten, die von Christus zugemessen wurde. Eine andere Übersetzung lautet sinngemäß: „Euch allen aber, jedem einzelnen, ist eine besondere Gabe zuteil geworden - ein Anteil an der großzügigen Gabe Christi“ (Eph 4,7). Das heißt, jeder von uns hat einen Anteil an der großzügigen Gabe Christi. Deshalb brauchen wir uns keine Sorgen zu machen, missverstanden zu werden. Wir müssen demütig und geduldig sein. Widersprich nicht, verliere dich nicht darin, am Gegenüber zu scheitern, sondern fahre fort, Nachsicht zu üben.
Was zu tun ist
Was können wir tun, wenn wir nicht die Kraft und die richtigen Worte haben, um nachsichtig zu sein? Wie können wir die Wahrheit von Christus weitergeben? Zuallererst sollten wir immer und in allen Dingen bestrebt sein, uns der Berufung eines Christen als würdig zu erweisen. Wir müssen stets Gott danach fragen, wie wir uns für den richtigen Weg in der jeweiligen Situation entscheiden können – denn Langmut bedeutet nicht, mit knirschenden Zähnen verbissen zu schweigen. Wenn wir diese Grundlage in unserem Leben haben, werden wir einen Durst nach der Gerechtigkeit verspüren und Gott schützt unser Inneres vor dem, was wir alles sehen und hören. Wir wollen uns von Gott mit der Rüstung der Gerechtigkeit beschenken lassen und in Liebe nachsichtig miteinander sein!
Leonid Odesskiy
Israel