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In der heutigen Zeit erleben wir in vielen unserer Gemeinden einen Wandel. Elemente der Lehre und Praxis, die bis vor einiger Zeit noch als unanfechtbar galten, werden infrage gestellt. Die einen möchten gern am Bewährten festhalten, so wie es überliefert wurde. Die anderen führen ins Feld, wir sollten uns an der Wahrheit orientieren, statt an Traditionen aus anderer Zeit und einem anderen Land. In manchen Gemeinden führt das zu offenen Auseinandersetzungen, in anderen entscheidet sich dieser Kampf allmählich zugunsten derjenigen Seite, die am energischsten ihre Standpunkte vertritt und „unter das Volk bringen“ kann. Deshalb stellt sich tatsächlich die Frage: Wem geben wir den Vorzug? Der Tradition oder der Wahrheit? Und ist letztere ohne die erste überhaupt denkbar?
Die Grundfeste der Wahrheit
Ein Blick in die Bibel zeigt uns eindeutig, dass für uns Christen die Wahrheit entscheidend ist und Tradition nur eine nachrangige Rolle spielen kann. Paulus macht im ersten Brief an Timotheus (vgl. 1.Tim 3,15) unmissverständlich klar, dass die Gemeinde des lebendigen Gottes „der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ ist. Nur zu gut klingt uns noch das Gespräch Jesu mit den Pharisäern über die Überlieferung der Alten in den Ohren (vgl. Mt 15,1-20). Jesus verteidigt hier Seine Jünger, denen die Schriftgelehrten einen Verstoß gegen diese Überlieferungen vorgeworfen haben. Er weist sie ernstlich zurecht, indem Er ihnen zeigt, wie sie gegen Gottes Gebote verstoßen, weil sie so sehr an menschlichen Überlieferungen festhalten. Er macht damit deutlich, dass letztere zwar nicht pauschal verwerflich sind, sich aber dennoch Gottes Wort unterordnen müssen. Vor diesem biblischen Hintergrund scheint die Entscheidung unserer Frage zugunsten der Wahrheit und somit gegen die Tradition auszufallen. Diese Betrachtung greift jedoch zu kurz! Denn damit ist eine andere, sehr wichtige Frage noch gar nicht geklärt: Ist all das, was wir beispielsweise für „Traditionen aus Russland“ erklären, tatsächlich menschliche Überlieferung oder beinhalten sie göttliche Wahrheiten?
Wie entscheiden wir, was Wahrheit ist?
Es ist nur löblich, wenn wir uns der Wahrheit verpflichtet fühlen; wie leicht gelangt man doch in die Irre! Insofern ist es gut und richtig, sich ausschließlich auf die Wahrheit zu fokussieren und von keinerlei menschlichen Beeinflussungen ablenken zu lassen. Wir wissen auch, dass wir die Wahrheit in der Bibel finden. Trotzdem merken wir in unserer Nachfolge recht bald, dass sich viele Christen überhaupt nicht einig sind über die Wahrheit, obwohl sie sich alle auf die Bibel und auch mehr oder weniger auf den Heiligen Geist berufen.
Wie also lässt sich entscheiden, was tatsächlich der Wahrheit entspricht? Welche Beweise sind gültig, welche nicht? Nach welchen Maßstäben kann ein Beweis als objektiv gelten? Denn nach objektiven Beweisen suchen wir doch! Und eigentlich suchen ja alle danach und werden sich doch nicht einig. Kann es etwa mehrere Wahrheiten geben?
Lasst uns einen Schritt zurücktreten und uns eine grundlegendere Frage stellen: Wahrheit – was ist das überhaupt? Um was für eine Kategorie handelt es sich hier? Ist es vor allem Information? Oder betrifft das auch Werke oder sogar den Lebensstil? Oder kann man sie nur in Gefühlen fassen? Die Bibelleser unter uns halten sicher schon längst die Antwort bereit. Jesus selbst spricht in Johannes 14,6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ An die Kolosser schreibt Paulus in Kolosser 1,19 über Christus: „Denn es gefiel [Gott], in ihm alle Fülle wohnen zu lassen.“ Insofern ist die Wahrheit weder Information noch ein Gefühl, sondern die Person Jesu Christi selbst. Deshalb sind es auch gar nicht wir, die entscheiden, was Wahrheit ist – in Christus ist das bereits entschieden! Das Einzige, was wir tun können und müssen, ist die Wahrheit zu erkennen.
Die Wege Gottes kennenlernen
Diese – scheinbar so banale – Erkenntnis hat Folgen für unsere Suche nach der Wahrheit, die häufig unterschätzt werden! Zunächst einmal müssen wir uns bewusst machen, dass Christus, die Wahrheit, unendlich ist. Das bedeutet dann aber gleichzeitig, dass prinzipiell niemand von uns die Wahrheit je in ihrer ganzen Fülle fassen oder erkennen kann! Insofern können all unsere Wahrheitsansprüche immer nur begrenzt sein. Gleichzeitig sollte uns klar sein, dass die Wahrheit ein endloser Brunnen ist, die zu suchen wir niemals aufhören können (vgl. Phil 3,10-12). Vor allem aber müssen wir die richtige Einstellung in Bezug auf die Wahrheit gewinnen: Es geht nicht um irgendein Ding, über welches wir verfügen können, sondern es geht um die Beziehung zur Person Christi!
Bei der Wahrheit geht es also weniger um Wissen und Beweise, sondern vor allem um Erkenntnis und Gottesfurcht (vgl. Spr 1,7). Im Antlitz ihrer Unendlichkeit ist unsere Demut und Gottesfurcht [vor der Wahrheit] nur folgerichtig. In diesem Sinne geht es also gar nicht darum, dass wir in immer größeren Besitz der Wahrheit gelangen, sondern – genau umgekehrt – dass die Wahrheit uns immer mehr in Besitz nimmt, indem wir uns ihr immer mehr hingeben! Es geht darum, Gottes Wege zu suchen, zu lernen und zu beschreiten.
Von Mose sagt die Bibel, dass Gott ihm Seine Wege geoffenbart hat (vgl. Ps 103,7), aber dass dies auch für das Volk Israel Seine Absicht war: „So erkenne nun in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzieht, wie ein Mann seinen Sohn erzieht. Und bewahre die Gebote des Herrn, deines Gottes, dass du in seinen Wegen wandelst und ihn fürchtest!“ (vgl. 5.Mo 8,5-6). Leider weigerte sich Israel, Gottes Wege zu lernen (vgl. Ps 95,10). Durch den Propheten Jesaja ruft der Herr zur Umkehr, weil unsere Denkweise und unsere Wege sich von Seinen so sehr unterscheiden, wie der Himmel von der Erde (vgl. Jes 55,7-9). Die Wahrheit zu erkennen oder Gottes Wege zu beschreiten, bedeutet demnach, immer mehr Gottes Denkweise, Handlungsweise und Seinen Charakter zu übernehmen.
Wahrheit wird anders geprüft als Fakten
Wenn wir von Wahrheit im biblischen Sinne und bezogen auf unseren Glauben sprechen, dann unterscheidet sie sich stark vom Wahrheitsbegriff im logischen, mathematischen oder naturwissenschaftlichen Bereich. Während letzterer vor allem auf empirische Beweise und Reproduzierbarkeit abhebt, ist die biblische Wahrheit unauflöslich mit der Person Jesu Christi verbunden. Aus diesem Grund gibt uns die Bibel auch völlig andersartige Methoden an die Hand, mit denen wir die Wahrheit von der Unwahrheit unterscheiden sollen.
Paulus schreibt Timotheus im zweiten Brief an gleich zwei Stellen diesbezüglich: „Halte dich an das Muster der gesunden Worte, die du von mir gehört hast, im Glauben und in der Liebe, die in Christus Jesus ist!“ (2.Tim 1,13) und „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und was dir zur Gewissheit geworden ist, da du weißt, von wem du es gelernt hast“ (2.Tim 3,14). Es ist bemerkenswert, dass Paulus hier als Grund für das Festhalten an den überlieferten Wahrheiten nicht logische Argumente und Beweise anführt, sondern einzig und allein die Quelle! Wie sehr widerspricht dies unserer gewohnten Art, Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden! Wir wollen objektive Beweise und Argumente, die sich unserem Verstand erschließen. Dahinter steckt unser Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Vielleicht sagen wir es nicht laut, aber das, was wir insgeheim wünschen, ist folgendes: „Gib mir überzeugende, plausible und logische Argumente und Beweise. Dann kann ich anhand dieser Beweise unabhängig von jedem anderen entscheiden, ob deine Behauptung wahr oder falsch ist.“
Wir merken nicht, dass wir uns damit in die verhängnisvolle Tradition des Unabhängigkeitsdrangs stellen, die den Kern des Sündenfalls im Garten Eden ausmacht! Wir wollen es selbst sein, die über Wahrheit und Irrtum entscheiden, „nur ich und mein Kopf“, und laufen auf diese Art Gefahr, uns von der Lehre der Apostel, der Propheten, Hirten und Lehrer zu lösen, die Gott doch der Gemeinde gegeben hat. Die Bibel sagt dazu in Sprüche 18,1: „Wer sich absondert, der sucht, was ihn gelüstet, und wehrt sich gegen alles, was heilsam ist.“ Wir übersehen, dass innere Logik und Plausibilität noch lange kein Garant für Richtigkeit sind. Schon in den irdischen Dingen unterliegen wir Täuschungen, wieviel mehr in göttlichen! Die Geschichte der Gemeinde Gottes zeigt uns, dass die meisten Verführungen und Irrlehren nicht aus Boshaftigkeit entstanden, sondern aus guten Absichten und häufig genug mit aufrichtigen Motiven.
Wahrheit ist nicht etwas, was wir besitzen können, sondern was uns zunehmend in Besitz nehmen sollte.
Erkennungsmerkmale für Wahrhaftigkeit
Weil die Wahrheit Christus selbst ist, muss es bei jeder Wahrheitsprüfung um die Übereinstimmung mit Seiner Person gehen. Weil wir aber keinen anderen Christus kennen, als den Christus der Heiligen Schrift – „wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch nicht mehr so“ (2.Kor 5,16) –, ist die Entscheidung zwischen wahr und falsch nicht ohne die Frage nach der Quelle zu treffen. Deshalb schreibt Johannes: „Was ihr nun von Anfang an gehört habt, das bleibe in euch! Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, so werdet auch ihr in dem Sohn und in dem Vater bleiben“ (1.Joh 2,24).
Ein wesentliches Merkmal für die Wahrhaftigkeit einer Lehre oder Gemeinde ist ihre Übereinstimmung mit dem Anfang, also der Lehre Jesu Christi und der Apostel (vgl. Lk 1,2). Orientiert sich die gegebene Lehre an Überlegungen der Vernunft, am Zeitgeist, an mächtigen Institutionen (wie z.B. Staatskirchen), oder am Wort Gottes? Fragt sich die gegebene Gemeinschaft oder Gemeinde, ob ihre Lehre logisch ist und heute noch vertretbar, oder versucht sie herauszufinden, was die Apostel in dieser oder jener Sache ursprünglich gelehrt und wie die erste Gemeinde bzw. die alten Christen bestimmte Aussagen der Bibel verstanden haben? Schätzen wir diejenigen wert, die uns das Wort Gottes gebracht haben (vgl. Hebr 13,7), oder halten wir ihre Lehre, Praxis und ihren Erfahrungsschatz für nicht länger zeitgemäß? Das alles sind Faktoren, die uns aufzeigen, ob jemand auf dem Weg der Wahrheit ist, oder eher auf Abwegen. Insofern ist die Frage danach, wie bestimmte Dinge von denjenigen Brüdern gehandhabt wurden, die uns das Evangelium überliefert haben, kein blindes Befolgen von Traditionen, sondern Merkmal geistlicher Qualität.
Ein weiteres Erkennungsmerkmal für Wahrheit ist die Übereinstimmung jeder Lehre mit der Lehr- und Glaubenspraxis der Gemeinden und Brüder untereinander, verbunden mit gegenseitiger Unterordnung. Wir sehen das beispielhaft an Apostel Paulus. Er hatte große Offenbarungen Gottes, blieb aber in der Gemeinde Antiochien und diente dort als Lehrer und Prophet (vgl. Apg 13,1). Obwohl Christus ihm erschienen war und ihm den Auftrag für die Heidenmission gegeben hatte, unternahm er keine eigenmächtigen Schritte, sondern wartete, bis ihn der Heilige Geist aussandte (vgl. Apg 13,2ff), und zwar durch seine eigene Gemeinde. Und auch später sehen wir in seinem Dienst, obwohl er nach eigenem Zeugnis weit mehr gewirkt hatte als alle anderen Apostel, seine Unterordnung und Abstimmung mit der Gemeinde. In Galater 2 beschreibt er, wie er seine Lehre durch die übrigen Apostel noch einmal überprüfen lässt. Und in Apostelgeschichte 21 berichtet uns Lukas, wie Paulus von seiner Missionsreise herkommend in Jerusalem keine eigenständige Evangelisationskampagne startet, sondern vor allen anderen Dingen den örtlichen Ältesten aufsucht und ihm Bericht erstattet. Als ihm dann der örtliche Brüderrat eine Empfehlung ans Herz legt, folgt er dieser ohne Widerworte.
Etwas Ähnliches sehen wir auch im Verhältnis der übrigen Apostel und leitenden Brüder der Urgemeinde untereinander. Apostelgeschichte 9 ab Vers 32 zeigt uns, dass Petrus der Leiter der jungen Gemeinde war, der die Ortsgemeinden beaufsichtigte und besuchte. Als sich aber die Apostel in Jerusalem zu einem Konzil versammelten (vgl. Apg 15), spricht plötzlich Jakobus (der Halbbruder Jesu und Ältester der Ortsgemeinde) das entscheidende letzte Wort. Dabei wurde er niemals von Jesus zum Apostel berufen. Trotzdem gibt es keinen Streit mit Petrus, sondern völlige Übereinstimmung, weil der Heilige Geist in beiden leitenden Brüdern übereinstimmend wirkte, und zwar auch in Übereinstimmung mit der Lehre, die er durch Paulus und Barnabas bewirkt hatte.
Diese Beispiele zeigen, auf welche Weise der Heilige Geist bei der Offenbarung der Wahrheit wirkt. Er offenbart sie niemals einer einzigen Person oder kleinen Personengruppe allein, sondern wirkt stets von mehreren Seiten in der Gemeinde und bestätigt es mehrfach. Und niemals arbeitet Er gegen die Ordnung und Leitung der Gemeinde, die ja von Ihm selbst eingesetzt ist! Das erklärt auch, warum die Apostel auf ihrem Konzil geschrieben haben: „Es hat nämlich dem Heiligen Geist und uns gefallen“ (Apg 15,28).
Keine einzelne Gemeinde ist vollkommen im Widerspiegeln des Wesens Christi, aber in jeder Gemeinde versucht der Heilige Geist, Jesus Christus noch mehr zu verklären. Deshalb sollen wir Christus und die Wahrheit in derjenigen Gemeinde suchen, in die uns der Heilige Geist gepflanzt hat, und dort auf unsere Hirten hören und sie wertschätzen. Niemand sucht sich seine Eltern selbst aus, sondern muss denjenigen Eltern gehorsam sein, die Gott ihm gegeben hat. In Hebräer 13,17 heißt es: „Gehorcht euren Führern und fügt euch ihnen; denn sie wachen über eure Seelen als solche, die einmal Rechenschaft ablegen werden, damit sie das mit Freuden tun und nicht mit Seufzen; denn das wäre nicht gut für euch!“ Wir müssen manchmal heranwachsenden Jugendlichen deutlich machen, dass ihre Begeisterung für irgendwelche Influencer oder Stars nicht angemessen ist, weil es nicht die Stars sind, die sie lieben, hegen und pflegen und in Notzeiten für sie einstehen, sondern ihre Eltern.
Genauso müssen aber auch wir verstehen, dass Gott zu uns nicht überwiegend durch Fremde, sondern durch unsere Lehrer und Hirten redet! Sie sind es, die für uns Verantwortung tragen, und ihnen gibt Gott auch die Speise, die für uns notwendig ist. Deshalb ist es auch kein Zeichen von Selbstgerechtigkeit, wenn bei neuen Lehren und Ideen zuerst danach gefragt wird, wie diese Dinge in unseren Gemeinden und von unserer Bruderschaft gesehen werden; damit werden mitnichten all den anderen Gemeinden und christlichen Strömungen in der Welt ihre Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit in Abrede gestellt. Vielmehr wird damit der Realität der geistlichen Eltern- und Kindschaft Rechnung getragen.
Mag sein, dass andere Gemeinden und Bruderschaften Anderes lehren und praktizieren. Für uns aber sind nicht andere Gemeinden der Maßstab, sondern das Wort Gottes und der Erkenntnisweg, den Gott uns bisher geführt hat! Zwar sind wir sehr wohl dazu angehalten, neu aufkommende Lehren oder Ideen sorgfältig zu prüfen, ob sie nun in unserer Mitte entstehen (vgl. 1.Joh 4,1) oder von außen hereinströmen (vgl. Offb 2,2). Nirgends aber erkenne ich in der Bibel die Aufforderung, die eigenen geistlichen Väter zu prüfen, zu kontrollieren und mit dem Maßstab fremder Lehren zu messen.
Wie Brunnen geprüft werden
Als weiteres Merkmal für die Zuverlässigkeit der mit einer Lehre verbundenen Gemeinde oder Personen zeigt uns die Schrift ihre Leidensbereitschaft. Als das Apostelkonzil in Jerusalem einen Brief an die Heiden verfasste, sandte es diesen mit Brüdern, die ihn treuhändisch an die Empfänger übermitteln sollten. Über diese Brüder schrieben die Apostel in dem Brief: „So haben wir […] beschlossen, Männer zu erwählen und zu euch zu senden […], die ihr Leben hingegeben haben für den Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Apg 15,25f). Mit der Hingabe und Leidensbereitschaft dieser Brüder war auch alles über ihre Zuverlässigkeit gesagt.Genauso hat auch Paulus selbst argumentiert. In seinem Brief an die Galater schreibt er, dass er für die Wahrheit des Evangeliums bereit ist, Anfeindungen zu ertragen (vgl. Gal 5,11; 6,17), während seine Gegner nur nach Leidensvermeidung, Ansehen und Eigennutz suchen (vgl. Gal 6,12-13). Entsprechend bittet er die Galater, anhand der vorhandenen bzw. fehlenden Leidensbereitschaft auf beiden Seiten doch selbst zu beurteilen, welche von ihnen wahr ist. Für die Entscheidung zwischen wahr und falsch ist das ein nicht zu unterschätzender Faktor!
Es geht nicht darum, zielgerichtet nach Leiden zu suchen. Aber unser Ausgangspunkt bei der Wahrheitssuche sollte die Bereitschaft sein, die göttliche Antwort auch und gerade dann anzunehmen, wenn sie uns unbequem erscheint oder gar unserem Wünschen und Wesen zuwiderläuft. Erst wenn wir uns auf diese Weise von unserer eigenen Befangenheit lösen, werden wir imstande sein, die Übereinstimmung einer Lehre mit der Person Jesu Christi zu beurteilen. Wenn also immer wieder der Bezug zu den uns vorausgegangenen Brüdern hergestellt wird, die in der Zeit der Sowjetunion Verfolgung und Repressionen erleiden mussten, hat das nichts mit einer Verklärung vergangener Zeiten zu tun, sondern mit der Wertschätzung ihrer Hingabe und Leidensbereitschaft!
Wert der Tradition
Es ist leicht zu erkennen, dass all diese Merkmale keinen „harten“ Beweischarakter haben, sondern mehr Indizien darstellen, die sich zu einem Gesamteindruck aufsummieren. Das ist auch nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei dem zu unterscheidenden Gegenstand – die Wahrheit – um eine Person! Trotzdem sind diese Merkmale geeignet, wahr und falsch in geistlichen Belangen voneinander zu unterscheiden, und wurden auch über all die Jahrhunderte von der Gemeinde so verwendet. Aus diesem Blickwinkel zeigt sich, dass für die Wahrheit die Überlieferung eine wichtige Rolle spielt, und deshalb Wahrheit nicht von Tradition getrennt werden kann. Sicherlich, es geht hier nicht um Tradition um der Tradition willen und um menschengemachte Gebote und Satzungen. Ein solcher Ansatz wäre ja allein schon durch das Merkmal der Übereinstimmung mit dem Anfang hinfällig. Aber weil niemand von uns die Wahrheit in sich selbst hat, sind wir alle auf die Überlieferung der Wahrheit angewiesen. Die wichtigste aller Überlieferungen ist dabei die Heilige Schrift! Keine andere Tradition kann sich mit ihr messen, deshalb wird sie mit dem Wort Gottes, ja mit Gott selbst identifiziert (vgl. Joh 1,1). Und dennoch ist die Wahrheit nicht zuerst ein Schriftstück, sondern die Person und das Leben Jesu Christi (vgl. Joh 1,14).
Irgendwer hat sehr treffend bemerkt: „Tradition ist nicht das Aufbewahren der Asche, sondern das Weiterreichen des Feuers!“ Wenn wir über Tradition sprechen, geht es nicht in erster Linie um Formen, sondern vor allem um Werte. Und wenn es keinerlei Werte mehr gibt, wird alles wertlos!
Ganz nebenbei bemerkt wird häufig unterschätzt, dass menschliche Gesellschaften ohne Traditionen nicht funktionieren. Es werden bestimmte althergebrachte Formen und Traditionen abgeschafft, weil man ja Gegner jedweder Tradition ist, und neue Formen eingeführt. Diese Formen werden immer und immer wieder wiederholt, bis sie die neue Tradition bilden! Insofern sollte unser Kampf sich nicht gegen Formen richten, sondern wir sollten prüfen, ob unsere Formen dem Inhalt angemessen sind.
An welcher Bibelschule lernte man diese Traditionen?
Es sind ja tatsächlich viele Elemente der Lehre und Praxis unserer Bewegung in völlig anderen Umständen entstanden, zu einem großen Teil in der Sowjetunion, vor allem in Zeiten schwerer Verfolgung. Und verständlicherweise hatten unsere Brüder damals unter solchen Umständen kaum Möglichkeiten, ihre Entscheidungen vertieft auszuarbeiten und schriftlich für die Folgegeneration zu begründen. Das bedeutet aber keineswegs, dass all diese Entscheidungen biblisch unbegründet oder gar leichtsinnig oder falsch waren! Unsere Brüder hatten keine Möglichkeit für Bibelschulen, obwohl viele der leitenden Brüder sich im Rahmen der Gegebenheiten eine gewisse Allgemeinbildung erwarben und mit ihren Fähigkeiten durchaus positiv hervorstachen. Aber Gott sorgte auf andere Weise für sie.
Bruder Alexander Konradi berichtet, dass er, nachdem er einige Zeit lang in der Gemeinde gedient hatte, eines Tages einen Traum hatte: Er hatte die Schule mit Auszeichnung absolviert und sollte nun eine höhere Laufbahn antreten. Seine Frau deutete ihm den Traum sofort: „Das heißt also, du musst für Christus ins Gefängnis.“ So kam es dann auch tatsächlich. Und er war nicht der einzige, sondern eine Vielzahl unserer Brüder mussten diesen Weg gehen. Aber dort lehrte Gott sie etwas, was man durch keine menschliche Ausbildung lernen kann. Sie lernten dort nicht bloß dogmatische Postulate, sondern echtes Gottvertrauen und wahrhaftige Gotteserkenntnis! In Zeiten schwerster Not lernten sie, die richtige Gottesvorstellung zu haben, die richtige Anbetung und Glaubenspraxis und den richtigen Lebenswandel. Sie lernten, Gottes Wege wirklich zu gehen. Auch wenn viele ihrer Entscheidungen nicht durch ausgefeilte Logik begründet wurden, waren sie trotzdem richtig, weil sie dem Geist der Wahrheit und der Person Jesu Christi entsprachen. Und sie bewährten sich in Zeiten schwerster Verfolgung der Gemeinde ebenso wie in Zeiten der darauffolgenden Freiheit.
Die Überlieferung bewahren
Deshalb ist es für uns heute wichtig, die damals gewonnenen Erkenntnisse wertzuschätzen und zu bewahren! Sicherlich, es mag in der konkreten Ausgestaltungsform Spielräume geben und wir sehen ja auch über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg in einzelnen Aspekten Veränderungen in der Gemeinde. Das bedeutet aber nicht, dass wir alles, was wir gerade nicht verstehen, zur menschlichen Tradition erklären und „mangels Schriftbeweis“ verwerfen dürfen! Ganz im Gegenteil, es gilt, zuerst den Kern einer Lehre oder Praxis zu begreifen und zu durchdringen. Es gilt, die Gründe für die damaligen Entscheidungen herauszufinden.
Wenn wir verstanden haben, was unsere Väter und Lehrer zu so einer Entscheidung bewegt hat und welche Gotteserkenntnis damit einherging, ja welche Leidensbereitschaft, dann können vielleicht auch wir selbst diese Entscheidungen an die nächste Generation vermitteln und erkennen, wie wir sie in der Praxis und Lebenswirklichkeit unserer Zeit in Übereinstimmung mit der Wahrheit verwirklichen können. Bei so einem Ansatz wird es auch kein „So war es schon immer!“ geben. Tradition und Überlieferung sind zwar wichtig, weil das der Weg ist, über den uns die Wahrheit erst erreichen kann, aber sie allein sind niemals ausreichend! Im Gegenteil, in Jesaja 29 spricht Gott ein Urteil über Sein Volk, weil „ihre Furcht vor mir nur angelerntes Menschengebot ist“ (Jes 29,13). Als Jesus einige Tage in Samaria war, lernten die Samariter die Wahrheit nicht mehr bloß aus der Überlieferung durch die Samariterin kennen, sondern bezeugten: „Nun glauben wir nicht mehr um deiner Rede willen; wir haben selbst gehört und erkannt, dass dieser wahrhaftig der Retter der Welt, der Christus, ist!“ (Joh 4,42).
Dasselbe gilt auch für uns heute. Es ist gut und richtig, den Ordnungen und der Lehre der Gemeinde Folge zu leisten, solange man sie nicht versteht, und zwar aus Demut vor Gott und aus Vertrauen darauf, dass Er selbst die Gemeinde leitet. Aber genauso wichtig ist es, auf der Suche nach der Wahrheit zu bleiben, um irgendwann zu erkennen und zu verstehen, warum und wofür die eine oder andere Lehre oder Praxis in der Gemeinde existiert und warum das ein Segen ist! Aus eben diesem Grund ermutigen unsere Bischöfe die Diener unserer Gemeinden immer und immer wieder und halten sie dazu an, Fragen nicht einfach nur „abzubügeln“, sondern sie als Gelegenheit zu nutzen, um die Wahrheit und unsere Werte an die Folgegeneration zu vermitteln. Lasst uns deshalb als „Schäfchen“ der Gemeinde diese Gelegenheiten nutzen, keine Provokationen oder Revolutionen anstreben, sondern in Unterordnung unter die von Gott gegebenen Hirten und Lehrer die Tradition wertschätzen, aber dennoch unaufhörlich die Wahrheit suchen, welche Christus selbst ist.
Johannes Nazarov
Gemeinde Lappenstuhl