Dienst und Versagen derer, denen wir dienen

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  • „Ein wahrer Diener von Menschen zu sein, bedeutet immer, neues Glück und neuen Schmerz auf sich zu nehmen.“ Phillips Brooks. Bildquelle: AdobeStock_193044498 @ svetazi

Dienst und Versagen derer, denen wir dienen

2021-06-04T11:04:18+02:004. Juni 2021|

Sie haben sicher durch schmerzliche Erfahrung gelernt, dass die Bergeshöhen unseres Dienstes oft von tiefen Tälern der Enttäuschung und der Entmutigung begleitet werden. Was einen Leiter am meisten schmerzt, ist das Versagen der Leute, denen er zu helfen sucht. Es sind Leute, die wirklich allen Grund hätten voranzukommen. Abraham muss über Lots geistlichen Niedergang zutiefst betrübt gewesen sein; Isaak und Rebekka schmerzte Esaus Verhalten außerordentlich, und Paulus weinte über die Probleme, die von den Leuten in der Gemeinde zu Korinth verursacht wurden. Selbst unser Herr sagte einst zu seinen Jüngern: »Bis wann soll ich bei euch sein und euch ertragen?« (Lk 9,41).

Phillips Brooks sagte Folgendes dazu:

Ein wahrer Diener von Menschen zu sein, bedeutet immer, neues Glück und neuen Schmerz auf sich zu nehmen. Beides vertieft sich fortwährend und bringt uns dadurch in immer engere und unauflöslichere Verbindung untereinander, je gründlicher und geistlicher der Dienst wird. Wer sich für andere Menschen hingibt, kann nie ein völlig trauriger Mensch sein, aber ebenso wenig vermag er ein Mensch ungetrübter Fröhlichkeit zu sein. (Phillips Brooks, The Influence of Jesus, London: H.R. Allenson, o.J., S. 191.)

Ich nehme an, Sie lesen dieses Zitat noch einmal, und zwar so langsam, dass die Botschaft in Sie eindringt. Und wenn das nächste Mal ein Lot oder Esau oder sogar ein Judas Ihr Herz bricht und Sie sich fragen, ob es wirklich Sinn macht, dem Herrn zu dienen, dann denken Sie an das, was Phillips Brooks gesagt hat: Dienst bedeutet tiefere Täler der Sorgen und höhere Berge der Freude, und beides kommt oft zusammen.

Niemand wusste darüber besser Bescheid als Mose. Kaum hatte er die Angehörigen des Volkes aus Ägypten geführt, als sie über Durst zu klagen begannen und sich dann auch beschwerten, dass es in der Wüste nichts zu essen gebe. Der Herr machte das bittere Wasser süß, er sandte ihnen das Manna vom Himmel und brachte Wasser aus dem Felsen hervor. Als Mose aber zu lange bei Gott auf dem Berg verweilte, wurden sie ungeduldig und forderten Aaron auf, ihr neuer Führer zu werden und ihnen einen neuen Gott zu machen. Das Ergebnis war das scheußliche Goldene Kalb mitsamt den fleischlichen Orgien, die damit einhergingen (2Mo 32).

Als er von dem Berg herabkam, offenbarte Mose in seinem Umgang mit den Sünden des Volkes mutige Führerschaft, doch dann musste er mit seiner eigenen Enttäuschung und dem Gefühl, versagt zu haben, fertigwerden. Was tat er? Er nahm sofort seine Pflichten vor Gottes Angesicht wieder auf und verwendete sich für ebenjenes Volk, das ihm das Herz gebrochen hatte!

Gott machte Mose zwei Angebote: Er wollte das abgöttische Israel vernichten und Mose zum Stammvater eines völlig neuen Volkes werden lassen. Doch Mose wollte nicht das Versagen anderer Leute für einen persönlichen Vorteil nutzen. Er verwarf beide Angebote und bat Gott, er möge seinem Volk vergeben und ihm noch einmal eine Chance geben. Weder Stolz noch Rachsucht beherrschten sein Herz; stattdessen sah Gott darin Demut und Vergebungsbereitschaft.

Als Mose wegen des Verhaltens des Volkes mutlos war, redete er mit Gott und flehte: »Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen!« (2Mo 33,18). Einerlei, wie viel wir oder unsere Leute versagen, das Einzige, was wirklich zählt, ist die Verherrlichung Gottes. Die Sünde Israels gab Mose die Gelegenheit, sich selbst zu verherrlichen, doch er lehnte das ab. Ein Bibelausleger schrieb dazu: »Aber die wahre Verherrlichung und heilige Erhebung für einen Menschen liegt darin, dass er sich in dir und nicht in sich selbst rühme, sich an deinem Namen und nicht an seinen eigenen Tugenden erfreue, noch dass er an irgendeinem Geschöpf Gefallen habe, es sei denn um deinetwillen!« (Thomas a Kempis, Of the Imitation of Christ, London: Oxford University Press, 1949, S. 183)

Wenn also Ihre Leute das nächste Mal versagen und Ihnen das Gefühl geben, Sie hätten selbst versagt, dann gehen Sie auf den Berg und bitten Sie Gott, Ihnen seine Herrlichkeit zu zeigen. Sehen Sie nicht auf sich oder auf die Leute, denen Sie dienen; richten Sie Ihren Blick vielmehr auf Gott und auf seine Herrlichkeit. Es wird nicht lange dauern, und Sie erhalten die Perspektive, die Gott von Ihnen erwartet. Dann werden Sie wieder bereit sein, das zu tun, was Gott von Ihnen getan haben will.

Jahrhunderte später ging ein anderer Diener Gottes auf den gleichen Berg – entmutigt, weil das Volk Israel ihn enttäuscht hatte. Es war der Prophet Elia, der gerade einen Sieg auf dem Berg Karmel errungen hatte, doch nun kurz davor stand, völlig zu resignieren: »Es ist genug!«, klagte er vor Gott, »nimm nun, HERR, meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter!  …  Ich habe sehr geeifert für den HERRN, den Gott der Heerscharen,  …  und ich allein bin übrig geblieben« (1Kö 19,4.10).

Welch ein Unterschied! Mose war voller Gram, weil das Volk treulos geworden und in Götzendienst gefallen war, und Elia war entmutigt, weil sich das Volk trotz des Gottesurteils auf dem Karmel nicht vom Götzendienst abwandte und Isebel ihn töten wollte.

Sehen Sie nicht auf sich oder auf die Leute, denen Sie dienen; richten Sie Ihren Blick auf Gott.

Doch Mose und Elia gingen mit ihren Verletzungen unterschiedlich um. Mose sah Gottes Herrlichkeit, und als er diese sah, fand er den neuen Mut, den er brauchte, um zurückzukehren und seinem Volk weiter zu dienen. Elia sah nur sich selbst, und was er zu sehen bekam, zog ihn nach unten, denn je länger er darauf blickte und nur von sich sprach, umso mehr verlangte ihn danach, alles aufzugeben. Wenn wir die Herrlichkeit auf dem Berg nicht sehen, werden wir niemals den Entmutigungen im Tal die Stirn bieten können.

Es ist interessant, dass sich Mose und Elia auf dem Berg der Verklärung begegneten (Mt 17,1-8). Die Enttäuschungen, die sie in ihrem Leben erfahren hatten, wurden bei diesem Geschehen aufgewogen: Eine lichte Herrlichkeitswolke überschattete sie, und eine Stimme aus dem Himmel versicherte ihnen, dass der Vater Wohlgefallen an dem Sohn gefunden habe. Beide sahen die Herrlichkeit Jesu Christi und besprachen »seinen Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte« (Lk 9,31), wobei vor seiner Verherrlichung das furchtbare Leiden am Kreuz kommen würde. Was Mose und Elia nicht erreichten, würde Jesus ausführen, doch sie hatten geholfen, den Weg für seinen Sieg vorzubereiten.

In der Haushaltung Gottes gehören Leiden und Herrlichkeit zusammen. Was Gott zusammengefügt hat, sollten wir – Sie und ich – nicht auseinanderreißen.

 

Warren W. Wiersbe (1929 – 2019)
Aus Im Dienst des besten Herrn, CLV