Erinnerungen aus dem Leben von Katharina Kliwer * 22.02.1929 + 23.11.2020

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  • Katharina mit 20 Jahren

Erinnerungen aus dem Leben von Katharina Kliwer * 22.02.1929 + 23.11.2020

2021-11-30T13:20:12+01:0030. November 2021|

Bevor der Krieg begann

Rosengart, ein deutsches Dorf in der heutigen Ukraine, war meine Heimat. Dort bin ich, Katharina Kliwer, geb. Bergen, 1929 als zweites von fünf Kindern geboren. Das Dorf Rosengart gehörte zu der mennonitischen Kolonie Chortitza. Mein Vater arbeitete in der Kolchose, meine Mutter litt an Polyarthritis und konnte dadurch nicht selbstständig gehen. Gottesdienste waren zu dieser Zeit streng verboten und es gab keine Gebetshäuser. Somit kannte ich es als Kind auch nicht, dass christliche Versammlungen abgehalten wurden.

In der Schule brachte man uns bei, dass es keinen Gott gebe. Doch meine Mutter legte den Glauben schon früh in unsere Kinderherzen, sodass die atheistische Lehre der Schule keinerlei Wirkung auf mich hatte. Meldete jemand der Regierung, dass eine Familie im Besitz einer Bibel war, kam der Vater ins Gefängnis. Mama erzählte uns von Gott und las aus unserer deutschen Bibel vor, jedoch nur bei verschlossenen Fenstern und Türen.

 

Unter Okkupation der Deutschen

1941 begann der deutsch-sowjetische Krieg und mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion endete unsere Kindheit. Ich war damals zwölf Jahre alt und unser jüngster Bruder gerade mal elf Monate.

 

Alle Männer unseres Dorfes wurden in die Trudarmee (Arbeitsarmee für Deutsche als Ersatz für den Soldatendienst) eingezogen. Zurück blieben nur noch Frauen, Kinder und einige alte Männer. Auch unser Vater wurde fortgeführt. Am folgenden Tag kamen deutsche Soldaten in unser Dorf und nahmen es ein. Mit dem Beginn des Krieges begann für uns der Kampf ums Überleben. Aber es gab einen, der für uns sorgte und uns damals nicht allein ließ. Auf der Suche nach Nahrung mussten die Kinder mit anpacken: Gemeinsam mit den Erwachsenen arbeiteten wir auf den Feldern und gruben Kartoffeln aus. Die Weizenfelder waren von den sich zurückziehenden russischen Truppen verbrannt worden.

 

Während der Besetzung der Deutschen bekamen wir die Erlaubnis, Gottesdienste halten zu dürfen, was vorher undenkbar gewesen war. Das ganze Dorf, alle Frauen und Kinder gingen zu den Versammlungen. Ich weiß noch, dass alle Menschen weinten und flehende Gebete emporstiegen. Alle befanden sich in großer Trauer, weil jede Familie ohne Vater zurechtkommen musste und die Ungewissheit, wo sich die Männer befanden, an jeder Familie nagte. Es gab einen Aufruf, für alle Väter zu beten, dass Gott sie wieder zurückbringen möge.

 

Evakuierung nach Deutschland

Zwei Jahre vergingen. Die russische Wehrmacht begann, sich wieder Richtung Westen zu bewegen, dementsprechend mussten die Deutschen sich zurückziehen. Im Herbst 1943 durchbrachen die russischen Truppen die Front und unser ganzes Dorf wurde nach Deutschland, Chemnitz-Klaffenbach, evakuiert. Dort lebten wir zwei Jahre. Im Winter 1944 fingen umfangreiche Bombardierungen durch Amerika und England an. Überall hörte man von schweren Bombenangriffen durch die Alliierten und man lebte in ständiger Todesangst.

Bis zum Februar des darauffolgenden Jahres war nun auch Dresden und unsere Gegend das Ziel. Dann kam die furchtbare Nacht, in der Chemnitz bombardiert wurde. Wir hatten uns bereits schlafen gelegt, als die Sirenen ertönten. Mit 150 Leuten saßen wir unten im Luftschutzkeller und warteten voller Furcht und Schrecken, was mit uns passieren würde. Eine Detonation nach der anderen ertönte. Diese grauenvolle Nacht ist mir intensiv in Erinnerung geblieben. Eng an Mama gedrückt, steckten wir unsere Köpfe zusammen. Wenn wir sterben sollten, dann nur gemeinsam!

Es war ein ohrenbetäubender Lärm. Die Erde bebte von dem starken Luftdruck und der Boden hob und senkte sich. Mama beruhigte uns, tröstete uns und betete still um den Schutz des Herrn. Auch uns sprach sie Mut zum Gebet zu. Das Ausmaß der Verwüstung nach dieser Bombardierung ist nur schwer zu beschreiben.

 

Verschleppung nach Sibirien - Leben in der Taiga

Am 8. Mai 1945 endete der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Die russischen Soldaten kamen und versprachen uns die Rückkehr in unsere Heimat, was sich später jedoch als Betrug herausstellen sollte. Zuerst in Passagierwaggons, dann eingepfercht in Viehwaggons ging unsere Reise nach Sibirien. Wir sahen unsere Heimat nie wieder.

 

Es war Oktober und es fiel zeitweise Regen und Schnee. Je nachdem, wo man saß, wurde die Kleidung von dem tropfenden Dach des Waggons durchnässt. Etwa ein Monat verging und die Essensvorräte gingen zur Neige. Wir waren dem Elend, Hunger und Missbrauch durch russische Kriegsgefangene hilflos ausgeliefert. Unter diesen Umständen brach eine Epidemie aus. Die Dysenterie (Ruhr) suchte uns heim und unsere Mama kam sterbenskrank in Sibirien an.

Da ihre Kleidung unterwegs durch das triefende Dach des Viehwaggons nass geworden war, bekam sie eine Lungenentzündung. Ihr Fieber stieg auf 40 Grad. In dieser ersten Nacht auf der Viehkoppel dachten wir, dass sie sterben würde. Auf einem Pferdefuhrwerk wurde sie ins Krankenhaus gebracht. Zuvor verabschiedete sie sich unter Tränen von uns allen, da sie dachte, dass sie nicht mehr lebend zurückkehren würde. Doch Gott gab uns unsere Mama zurück und wir durften noch fast ein Jahr mit ihr verbringen.

 

Im Winter 1945 wurde unsere Familie in einem Hühnerstall der Kolchose einquartiert. Ohne jedes Mittel zum Überleben, umgeben von Wald, der Taiga. Mitten in der Taiga stand der Hühnerstall, wo wir mit ungefähr 13 Personen lebten. Wir wohnten auf ca. 20 m2 und schliefen auf dem Boden aus Erde. In der Mitte stand ein eiserner Herd. Oft gingen meine Schwester Margarethe und ich in den Wald, um Holz zu hacken. Es war ein mühsamer Kampf ums Überleben. Im Frühjahr, wenn es anfing zu tauen, sammelten wir gefrorene Kartoffeln vom Vorjahr auf den Feldern und buken Fladen aus gekochten Kartoffelschalen auf dem eisernen Herd. Aus Brennnesseln und anderen Sträuchern kochten wir Suppen. Wir dachten, dass man ohne Brot und Geld nicht überleben könne, aber die Gnade Gottes erhielt uns wie durch ein Wunder am Leben. Dafür sei Ihm die Ehre!

 

Ganz unerwartet erhielten wir eines Tages einen Brief von unserem Vater, der zu der Zeit in Tomsk lebte und auf die Erlaubnis der Kommandantur wartete, um zu uns zu kommen. Es kam der Sommer und Mama ging es zusehends schlechter. Im August 1946 starb unsere Mama in dem Hühnerstall und wir blieben als Waisen allein zurück. Zehn Tage später kam unser Vater und die Begegnung mit seiner Frau fand am zugeschütteten Grab in der Taiga statt. Da Vater wieder zurück nach Tomsk musste, lebten wir Kinder noch ein weiteres Jahr allein. Doch Gott sorgte für uns und brachte uns 1947 zu unserem Vater nach Tomsk.

 

Meine Bekehrung

Im August 1951 bekehrte ich mich im Gebetshaus in Tomsk in einer Baptistengemeinde. Zur gleichen Zeit begann dort die Pfingstbewegung. Von Freunden aus der Ukraine erfuhren wir durch Briefe über den Heiligen Geist und fingen an, dafür zu beten. Nach kurzer Zeit entstand eine Gemeinde mit wiedergeborenen Christen, die mit dem Heiligen Geist getauft waren. Die Nachricht und die Lehre des Heiligen Geistes verbreitete sich schnell und die Pfingstgemeinde wuchs. Doch waren wir wie Schafe ohne Hirten, weil wir keinen Pastor und Lehrer hatten, die uns unterweisen könnten. Gott sah dies und schickte uns Menschen aus Mittelasien.

Anfangs waren es ältere Schwestern, durch die Gott wirkte und die uns unterwiesen. Da wir kein Gebetshaus hatten, gingen wir oft in der Nacht zum tatarischen Friedhof. Im Schnee kniend wurden heiße Gebete zu Gott emporgeschickt. An einem Dezembertag gingen wir wieder nachts mit einer kleinen Gruppe zum verlassenen tatarischen Friedhof, um zu beten. In diesem Gebet, es war etwa 1 Uhr nachts, versiegelte mich der Herr mit dem Heiligen Geist – mit dem Zeichen der Zungenrede. Im tiefen Schnee standen wir auf Knien und Gott erfüllte mich mit einer unbeschreiblichen Freude des Heiligen Geistes. Mir wurde deutlich, dass alles, was Gott in unserem Leben zugelassen hatte, uns zum Guten gedient hatte. Die Wege Gottes sind wunderbar.

 

Die Pfingstgemeinde in Tomsk wuchs und ich gehörte zu den ersten, die mit dem Heiligen Geist getauft wurden. Nach einiger Zeit schickte uns Gott auf wunderbare Weise einen älteren Bruder aus Mittelasien namens Afanasav Michaieliwitsch aus der Oblast Frunse, Stadt Kant. Er war Ältester der Pfingstgemeinden. So schickte Gott uns Arbeiter Seines Weinberges, damit Seine Gemeinde aufgebaut werden konnte. Als Bruder Jakob Wiebe, ein deutscher Prediger, nach Tomsk kam, berichteten wir ihm vom Heiligen Geist und auch er begann, darum zu beten. Wir gingen oft in den Wald, um dort im Gebet zu verbleiben. Es schien, als ob Gott uns unter freiem Himmel noch näher wäre. Der Heilige Geist hat unseren Herzen dort viel Freude bereitet und die Gnade Gottes blieb mit uns.

 

„Wir stehen noch am Ufer, an einem großen Fluss.
Warten auf die Überfahrt, um in die Heimat einzugehen“.

(Übersetzt aus dem Russischen)

 

Beim Untergang der Sonne über dem Fluss ertönte unser Lied, als wenn die Engel mit uns sangen. So eine Freude hatten wir. Unvergesslich, als ob der Himmel mit uns jubelte und triumphierte.

Schwester Katharina Kliwer

Nachwort

Katharina Kliwer schrieb noch viele Erinnerungen nieder und betonte immer wieder die Gnade Gottes in ihrem Leben und die Macht des Gebets. Durch Gottes wunderbare Führung durfte sie 1959 Johann Kliwer in Tscheljabinsk heiraten. Ihnen wurden fünf Kinder geschenkt. Im Juli 1989 wanderten sie nach Deutschland aus und wurden Mitglieder in der Gemeinde in Miesau. Im Jahr 2010 verlor Katharina ihren Ehemann. Trotz aller schwierigen Umstände in ihrem Leben vertraute sie auf Gott. Den Dienst des Gebets für die Gemeinde und ihre Familie tat sie aufrichtig und mit voller Hingabe, auch als sie körperlich schon sehr schwach war. Am 23. November 2020 ging Katharina Kliwer mit 91 Jahren heim zu ihrem Heiland, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte.

 

Helene Roth
Gemeinde Speyer